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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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bieten. Auf dem steinigen Weg, der vor ihm liegt, muss er mit dem Finger auf eure Hartnäckigkeit zeigen dürfen, er muss die Chance haben, die Menschen drüben zu fragen: Ihr wollt schon aufgeben, und eure Brüder und Schwestern im Osten halten seit 6 2 Jahren durch? Wenn ihr das Handtuch werft, werft ihr es für uns mit. Dann wirft ganz Deutschland den Sozialismus und mit ihm die Lebensleistung von Generationen aufrechter Sozialisten und Kommunisten in den Müllschlucker, dann wird es erst recht heißen: Die sozialistische Idee funktioniert nicht, ihr seht doch, dass sie gescheitert ist, gibt es die DDR noch oder gibt es sie nicht? Ihr seid unsere Lebensversicherung. Und wir sind eure: über Devisenzahlungen, Transitabkommen, Wirtschaftsförderung. Wir sind aufeinander angewiesen. Und wir können voneinander lernen. Lasst uns den Sozialismus weiter verbessern, lasst uns die letzten Fehler ausmerzen, lasst uns das historische Werk vollenden, das nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen wurde und das immer noch heißt: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, stattdessen Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit, Frieden un d – endlich, liebe Genossinnen und Genosse n – endlich wahre Freiheit!
    Blühdorn hob den Kopf und starrte mit seinem fleischigen roten Gesicht ins Publikum, das jetzt zögernd anfing zu klatschen, sich steigerte, immer lauter wurde, bis es kräftig applaudierte.
    Wegener betrachtete sein Minsk, das vor ihm auf dem ausgeklappten Mini-Schreibpult lag. Das Display leuchtete. Er klickte die Tastensperre weg. Frank Stein hat Ihnen eine TNT geschickt: Bitte um Rückruf! Putzfrau getroffen, das Mädchen auf dem Foto ist Hoffmanns Tochter: Marie Schütz! Die Studenten klatschten immer lauter. Dann standen sie klatschend auf. Ein wilder Beifallssturm brach los, spülte Blühdorn aus dem Audimax und riss immer noch nicht ab, als er schon verschwunden war.
    Wegener sah zu Kayser rüber. Der hing mit halb geöffnetem Mund auf seinem Klappsitz und schnarchte.
    *
    »Musste er leiden?« Blühdorn hatte sein nasses Hemd ausgezogen und saß mit nacktem Oberkörper auf einem Hocker. Sein Bauch war ein aufgedunsener Medizinball, der sich bis über die Oberschenkel wölbte. Die dunkle Behaarung des Balls wuchs in der Bauchmitte zu einem schwarzen Saum zusammen und kroch über den Nabel bis in den Hosenbund. Im kalten Licht des Besprechungszimmers wurde der Mann zu einem triefenden Gorilla, sein Rückenpelz wucherte ihm über die Schultern wie eine ungemähte Wiese, Wegener sah Nasenhaarbüsche, Ohrenhaarbüsche, Fingerhaarbüsche, dunkles Dickicht, das ihm Lust machte, einen alles versengenden Flammenwerfer anzuschmeißen. Von Blühdorns Stirn tropfte es auf seine eleganten Lederschuhe und den grauen Linoleumboden.
    »Wir gehen davon aus, dass er sofort tot war«, sagte Wegener. »Wie bei einer Hinrichtung. Genau so brutal, aber auch genau so schnell.«
    Blühdorn nickte.
    Wegener ließ ihm ein paar Sekunden Zeit. »Sie waren befreundet?«
    Blühdorn nickte einfach weiter. »Waren wir. Aber das ist lange her.«
    »Gab es Streit?«, fragte Kayser.
    Blühdorn blickte auf. Sein fleischiges Gesicht sah amüsiert aus. »Nein, warum? Albert ist in die DDR emigriert, und ich habe ihn dafür immer bewundert. Wir hatten regelmäßigen Briefkontakt, auch nach der Wiederbelebung. Bis Krenz die Mauer wieder zumachte. Danach hat Albert sich vollständig zurückgezogen.«
    »Auch von Ihnen.«
    »Von allen, soweit ich weiß.«
    »Wann genau haben Sie zum letzten Mal von ihm gehört?«
    Blühdorn zuckte mit seiner haarigen Schulter. »Vermutlich mit der Weihnachtspost 1991 oder so. Sie finden nicht viele Leute, die Ihnen was über Albert erzählen können, stimmt’s? Das hab ich mir gedacht.«
    »Wie würden Sie ihn beschreiben?«
    Das Fleischgesicht lächelte. »Intelligent. Entschlossen. Weitsichtig. Besonnen. Gebildet. Mutig. Der überzeugteste Sozialist, den ich jemals gekannt habe. Und der überzeugteste Freiheitskämpfer.«
    »Vielleicht hätten Sie ihn heiraten sollen«, sagte Kayser.
    »Dann hätten wir ausgesehen wie Dick und Doof«, Blühdorn lächelte. »Was macht eigentlich ein Westbeamter wie Sie hinter der Mauer?«
    »Und was macht ein Westdoktor hier?«
    »Das wüssten Sie, wenn Sie in meiner Vorlesung wach geblieben wären.« Blühdorn wischte sich mit dem zusammengeknüllten Hemd den Schweiß von der Stirn. »Ich habe Adleraugen, mein Herr. Ich sehe sogar die Zukunft.«
    »Sie sehen den Sozialismus und halten ihn

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