Plan D
für die Zukunft«, sagte Kayser. »Das ist ein Unterschied.«
Blühdorn wuchtete sich hoch, nahm eine beinahe aufrechte Haltung ein und watschelte zum Tisch, auf dem seine Reisetasche stand. »Albert war das Genie in Heidelberg. Er konnte Politik nicht nur rückblickend analysieren, das können sie alle, Albert benannte Fehlentscheidungen, bevor sie getroffen wurden. Glasklar. Und er hatte fast immer Recht.«
»Weil er schlauer war als die anderen?«
»Schlauer war er sowieso.« Blühdorn stopfte sein verschwitztes Hemd in eine Plastiktüte und zog ein frisches aus der Tasche. »Aber er war vor allem zweierlei: ein grandioser Humanist und ein grandioser Stratege. Verstehen Sie, was ich meine? Die Mélange? Er wusste, was die Menschen wollen, weil er denken konnte wie sie. Und er wusste, was man tun muss, um die Wünsche der Menschen zu erfüllen, weil er multidimensional kalkulierte und nichts außer Acht ließ, nur weil es vielleicht auf den ersten Blick störte. Er hat seine Theorie den Tatsachen angepasst, nicht die Tatsachen der Theorie. Bis alles saß. Da können Sie lange suchen, bis Sie unter Wissenschaftlern einen finden, der so ehrlich zu sich selbst ist.«
»Herr Doktor Blühdorn.« Kayser ließ sich auf einen verschlissenen Stuhl sinken. »Wenn Albert Hoffmann ein Orakel gewesen wäre, würde er noch leben.«
»Glauben Sie? Ich hatte schon viel eher mit seinem Tod gerechnet.«
Wegener setzte sich auf den frei gewordenen Hocker.
Blühdorns Blick suchte in dem kahlen Zimmer einen weiteren Stuhl und fand keinen. »Leute, die neue politische Ideen vertreten, leben in Parteidiktaturen immer gefährlich. Albert ist damals nicht rüber, weil er im Westen kein bequemes Leben gehabt hätte, das können Sie sich denken. Er wollte eingreifen, mitmischen, seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Er wollte keine Nachtragswissenschaft mehr, keine ex-post- Klugscheißerei, sondern Praxis, Fortschritt, Tatsachen, den Sozialismus demokratisieren. Er war in den Jahren vor der Wiederbelebung der engste Weggefährte von Egon Krenz.«
»Er war einer unter vielen Beratern«, sagte Wegener.
Blühdorns Fleischgesicht wurde höhnisch. »Von wem kriegen Sie Ihre Informationen, Herr Hauptmann? Von der Staatssicherheit?«
»Schön wär’s«, sagte Kayser.
Wegener stellte sein Minsk auf Diktierfunktion und sah den Fleischberg an. Der hatte seinen beachtlichen Hintern auf den Tisch gewuchtet und thronte da wie Buddha. Das frische Hemd hielt er immer noch in der Hand. Dieser Buddha bluffte nicht, das sah man ihm an. Der ahnte, dass er die erste echte Quelle war.
»Gibt’s noch was, das Sie wissen wollen?«, fragte die Quelle.
»Wie ist Hoffmann vom westdeutschen Professor zum ostdeutschen Politstrategen geworden?«
»Seine Publikationen zum Posteritatismus haben Ende der Siebziger für Aufsehen gesorgt. Auch in der DDR. Jemand von der Humboldt hat ihn einem Staatssekretär des Politbüros empfohlen, der ließ Kontakt aufnehmen, und Krenz holte ihn Anfang der Achtziger rüber.«
»Als eine Art Sonderberater.«
»Offiziell als Professor für Marxismus-Leninismus. Inoffiziell als persönlichen Strategen, integriert in den Beraterstab.«
»Und was genau war Hoffmanns Aufgabe?«
»Die Zukunft der DDR. Die Zukunft des Sozialismus.«
»Also das, was wir heute erleben«, sagte Kayser.
Blühdorn verzog keine Miene. »Das, was wir heute erleben, würden Sie nicht wiedererkennen, wenn Albert Hoffmann Egon Krenz auch nach 1991 beraten hätte.«
»Warum ist er dann ausgestiegen?«, fragte Wegener.
»Krenz war nicht der richtige Mann für Hoffmanns Visionen. Am Anfang hat er mitgemacht. Dann verließ ihn der Mut, und der Politiker kam durch. Die ewige Angst um die Macht. Kein Wunder, vor Albert hatte der Egon ja auch nur minderwertige Mentoren.«
»Welche Visionen meinen Sie?«
Blühdorn zog die Augenbrauen hoch. »Welche Visionen? Alle Visionen! Glauben Sie, Krenz hat oder hatte irgendeine Idee, wie er seinen DDR-Karren in dem Dreck, den Ulbricht und Honecker und die ganzen behämmerten Greise ihm eingebrockt haben, auch nur einen Millimeter bewegen kann? Alberts wichtigstes Projekt war die Öffnung der Mauer. Ich sage Ihnen ja, er dachte wie die Menschen. Und er wusste, dass der Sozialismus niemals funktionieren kann, wenn man das Volk einsperrt, um es zu seinem Glück zu zwingen. Wie erziehen Sie Ihre Kinder? Drohen Sie mit Hausarrest, damit die ihren Spinat aufessen, oder versprechen Sie eine Stunde länger Fernsehen?
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