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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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Wegener. Diese Szenerie hilft Ihnen zu verstehen, dass Zeit das wertvollste Gut des Menschen ist. Außerdem werden Schrottplätze im Gegensatz zu Telefonleitungen nicht abgehört. Es sei denn, von mir.«
    Ein lautes Knacken. Der Lautsprecher war abgeschaltet.
    Kayser stand auf dem Boulevard, sprach in sein Handy und sondierte währenddessen die Umgebung. Er spazierte zum nächstgelegenen Autoblock, klopfte beiläufig auf eine Phenoplastmotorhaube, lauschte ins Telefon, sprach wieder.
    Voss lehnte unbeweglich am Volvo.
    Leichter Wind wehte durch die Geisterstadt und ließ Schwärme senffarbener Schaumstoffbrocken im Dreck spielen, ewig haltbare Polsterungsreste, die jetzt ein aufregendes Eigenleben führten. Die Sonne war wieder da. Überall in der Trabantkulisse leuchteten kleine Glassplitter auf, als hätte jemand dieses gigantische Kunstwerk mit Kristallzucker bestreut. Wegener setzte sich auf einen der Schrottwürfel und schwenkte seinen Blick langsam über die Wagentürme. Nicht die kleinste Bewegung.
    Nach fünf Minuten kam Kayser zurück und setzte sich neben ihn. »Wir haben Glück, Brendel hockt sowieso gerade mit denen zusammen. Das Kanzleramt hat das Büro von Krenz informiert, die kontaktieren jetzt das Innenministerium. Aber Brendel braucht einen Namen, wenn hier im Eilverfahren ein Ausreiseantrag bewilligt werden soll.«
    Lautes Knacken. »Stellen Sie das RVD auf Ronny Gruber aus«, sagte der Lautsprecher. »Ronny mit Ypsilon.«
    »Scheint ein gutes Richtmikrofon zu sein.« Kayser schüttelte den Kopf und tickerte eine SMS in sein Handy.
    »Die Sache läuft«, sagte Wegener laut. »Ich denke, Sie können rauskommen.«
    »Sobald das RVD eingetroffen ist.«
    »Wie viele Trabants lagern hier?«
    »Gute Frage. Eine halbe Million, würde ich schätzen.«
    »Und die werden noch verschrottet?«
    »Rentiert sich nicht. Begreifen Sie diesen Ort als Symbol für unser Land, Herr Wegener, dann können Sie sich alle weiteren Fragen selbst beantworten.«
    »Dann würde ich sagen, unser Land steht in 10 0 Jahren noch.«
    »Das war witzig«, sagte die Lautsprecherstimme trocken. »Sie haben Recht, Phenoplast rostet natürlich nicht, nur die tragenden Teile. Aber ich denke, Sie stimmen mir zu, dass es hier nicht unbedingt schöner wird.«
    »Es sei denn, man mag es morbide.«
    »Ich mag es eher lebendig.«
    »Sie gehören zur Brigade Bürger«, sagte Wegener.
    Die Lautsprecherstimme lachte. »Das dauert ja, bis bei Ihnen der Groschen fällt. Das Präsens ist allerdings unkorrekt, sonst säßen wir nicht hier.«
    »Gut. Präteritum. Sie gehörten . Und warum sind Sie ausgestiegen?«
    »Können Sie sich nicht denken, warum man in diesen Tagen bei denen aussteigen will?«
    »Also wegen der Bombe.«
    »Ich halte nicht viel von Bomben. Die hinterlassen in der Regel große Verständigungslöcher. Der Eingang des RVDs wird gerade angezeigt. Ich prüfe das nach, dann komme ich zu Ihnen.« Ein kurzes Fiepen der Rückkopplung, dann waren die Lautsprecher tot.
    Voss saß im Volvo und hörte bei offener Tür Radio, der Wind wehte Schlagermusik über den Platz, Fraglos, die Zeit hasst die Lieb e … fraglos, Schatz, dafür hass ich die Zei t … heute sind wir noch Glückstagediebe, aber morgen schon blüht uns das Leid, aber morgen schon blüht uns das Lei d …
    Dieser beschissene Schlager verfolgt mich, dachte Wegener, als Frischverliebter würde ich den Dreck gar nicht hören, selbst wenn ich mir die Kompaktplatte kaufen und in meinen Kompaktplattenspieler schöbe, käme kein Ton aus den Lautsprechern, keine Silbe, denn dem Glücklichen fehlt das Organ für Jammerkitsch, er kann ihn nicht aufnehmen, wahrnehmen, das Zeug läuft ins Leere, verhallt ungehört, aber sobald man leidet, unter Frauenfrust, Vertrauensverlust, unter Karolinas Nichtleiden, unter ihrer widerwärtigen, unantastbaren Zufriedenheit mit den Dingen, wie sie gekommen sind und für immer bleiben sollen, sobald man also der Fraktion der tagtäglich tatsächlich Unglücklichen zugerechnet werden kann, ab diesem Moment werden im Innenohr eine Million Drüsen aktiviert, die Schmalz anziehen, die pathetische Klagelieder jederzeit orten und verstärken und einem so die banalsten Zeilen ins Hirn brennen, Fraglos, die Zeit hasst die Lieb e … fraglos, Schatz, dafür hass ich die Zeit, und plötzlich wirken diese Sätze wie unumstößliche Wahrheiten, wie Philosophie zum Mitsingen. Die ganze Welt, das eigene exorbitante Elend, alles geht in einem albernen Reim auf, wird

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