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Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
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Linde n 6, 1012 Berlin (Ost); (A-Tr.: Sekretariat Rektorat der Humboldt-Universität zu Ostberlin)
    Rufnummer 003 7/ 018 2 35 6 6 6 24(M ) – Schütz, Marie; Ludwig-Renn-Straß e 32, 1046 Berlin (Ost)
    Liebe Marie Schütz, dachte Wegener, wenn dich Onkel Blühdorn heute um 13:02h angerufen hat, fünf Minuten nachdem er uns weismachen wollte, dass er überhaupt gar nichts von einer Albert-Hoffmann-Tochter weiß, dann bist du mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit des Spielmachers Kind.
    Er tippte die Rufnummer in sein Minsk. Öde Tonwahl-Melodie. Lautes Knacken. Eine Computerstimme: Der Teilnehmer des Anschlusses 0-1-8-2-3-5-6-6-6-2-4 ist zur Zeit nicht erreichbar , Sie können, Wegener legte auf. Er kopierte die Nummer ins TNT-Feld und schrieb:
    Sehr geehrte Frau Schütz, ich würde Sie gerne vor der Staatssicherheit ausfindig machen. Mit freundlichen Grüßen, Hauptmann Martin Wegener, Volkspolizei Berlin, Kriminalkommissariat Köpenick
    Dann drückte er auf Senden . Der grobkörnige Briefumschlag flatterte durchs Display, drehte sich um sich selbst, als wäre er von einem digitalen Windstoß erfasst worden, verschwand nach unten. Eine Textzeile blendete ein: Ihre Nachricht wurde erfolgreich an »01823566624« gesendet! Es grüßt Ihr VEB Telemedien-Team.
    Wegener stand auf, schlurfte über die Teppichwatte zur Minibar, nahm den Rotkäppchen-Piccolo aus der Kühlung, riss den dünnen Hut aus Alufolie ab und drehte den Schraubverschluss auf. Dann griff er sich ein Glas aus dem glänzenden Kirschholzregal neben dem glänzenden Kirschholzschreibtisch, goss den schäumenden Sekt ein, fischte die Packung Ültje-Erdnüsse aus der Glasschale, trat die Minibartür mit dem Fuß zu, schlurfte zehn Meter zu der Wand aus sandfarbenen Vorhängen und zog den glänzenden Stoff mit kräftigen Bewegungen nach links und rechts zur Seite: eine Fensterfront vom Boden bis zur Decke, schallisolierte Doppelglasscheiben und darunter Berlin, Alexanderplatz, ein endloser Zivilisationsozean in graublauer Abenddämmerung, ein Großstadttiefseegraben mit Plattenbauriffen und Betonklippen, voller Phobos-Schwärme, stoßweise nach vorn schnellend und wieder anhaltend, dann wieder vorschnellend, mit ihren leuchtenden Vierfachaugen immer auf der Suche nach dem Vordermann, nach einem asphaltierten Weg durch die Finsternis, ihr irrlichternden Idioten, dachte Wegener, glaubt, ihr könnt euch frei bewegen, und wenn ihr nur ein einziges Mal falsch abbiegt, klatscht ihr vor die Wand eures Aquariums.
    Dann trank er. Der eisige, blubbernde Sekt kratzte im Hals, erfrischte, machte hellwach, verpuffte zum duftenden Dampf. Wegener legte die Stirn an die kalte Glasscheibe, starrte nach unten. So fühlten sie sich also, die Geschäfts-Wessis, die EastSide-Ausländer, für die das alles nur ein Zoobesuch war, Diktatourismus mit dem romantischen Kitzel des abgesicherten Abenteuers, der gekauften Gefahr, eine Nacht im Gefängnis, Schatz, wünsch mir Glück. Das Einfamilienhaus in Frankfurt, das Segelboot in Hamburg, der Porsche in München, die Loftküche in Düsseldorf, alles wurde, von Ostberlin aus betrachtet, noch viel attraktiver, die Distanz war eine Lupe, machte den Besitz erst richtig sichtbar, nur durch diesen Abstand gewann der eigene Reichtum eine wirklich beeindruckende Größe, die Heimkehr zu diesem Vermögen war ab sofort das Wertvollste überhaupt, man konnte seine Errungenschaften wieder genießen, weil man sie kurzzeitig vermisst hatte, durch die Entfernung war man ihnen näher gekommen, jetzt wusste man, dass in ganz Ostdeutschland niemand so ein Einfamilienhaus, so ein Segelboot, so einen Porsche, so eine Loftküche sein eigen nennen konnte, dass man also mehr besaß als ein ganzes Volk, mehr als eine ganze Nation, dass man in Düsseldorf der Loftküchenkönig der DDR sein konnte, dass einem erst der Sozialismus die Freude am Kapitalismus wiedergegeben hatte.
    Wegener machte den zweiten Piccolo auf, stopfte sich die salzigen Ültje-Nüsse in den Mund, belächelte das Alexanderplatz-Aquarium von oben herab, war für ein paar Minuten Devisendieter, westdeutscher Geschäftsmann, Industrieller, Stahlhändler oder Schokoladenfabrikant, freute sich auf die Rückkehr in die BRD und deshalb am Anblick der Deutschen Demokratischen Republik, konnte ihre exotische Hauptstadt plötzlich bewundern, wusste die schäbige Größe, den geschmacklosen Gigantismus zu schätzen, war ergriffen von ihrer Anonymität und Entstelltheit, von ihren krustigen Narben, von

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