Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
verstanden, wie anders wir Amerikaner wirklich sind. Bei uns muss nicht nur alles eine Nummer größer sein, nein, es steckt was anderes dahinter.
Amerika ist gar kein Staat, es ist eine Religion.
Das Kongressgebäude ist unser Obertempel, und die ganzen anderen klassizistischen Gebäude, das Weiße Haus, die Denkmäler und Gerichtsgebäude – Washington, D.C., verfügt über mehr weiße Säulen als ganz Griechenland über griechische Tempel –, all das gehört zum Tempelbezirk. Wir haben mystische Symbole: Auf unseren Dollarscheinen tummeln sich geheimnisvolle Zeichen, die kein Mensch versteht, und das große Siegel der Vereinigten Staaten zieren die lateinischen Sprüche »Novus Ordo Seclorum« und »Annuit Coeptis« – »Neue Ordnung der Zeiten« bzw. »Er betrachtet unser Unternehmen mit Wohlwollen«, wobei »er« natürlich keinen Geringeren als Gott meint.
Unsere wichtigsten Feiertage, der Unabhängigkeitstag am 4. Juli und Thanksgiving, werden so feierlich wie Weihnachten begangen.
Wir haben ein Glaubensbekenntnis. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Eid auf die Fahne eingeführt, den alle Kinder in der Schule wiederholen sollten; dieser »Pledge of Allegiance« wurde 1954 sogar noch dahingehend überarbeitet, dass »Gott« darin Amerika unter seinen besonderen Schutz stellt: »Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle.«
Über unsere wichtigsten Präsidenten schreibt man keine Biographien, sondern Hagiographien, eine Ehre, die in anderen Ländern nur Diktatoren oder Heiligen zuteil wird: Wir erzählen gerne Geschichten aus der Kindheit von George Washington (der »niemals log«, selbst wenn er einen Apfel klaute) und von Abraham Lincoln (der in einer Blockhütte am Ende der Welt aufwuchs). Von Adenauer und Bismarck habe ich solche Geschichten nie gehört, höchstens von Jesus, der in einem Stall geboren wurde und als Junge im Tempel mit den Gelehrten stritt, bevor er groß rauskam.
Wir haben sogar Märtyrer: Ein Großteil der Verehrung für Lincoln und Kennedy beruht auf ihrem gewaltsamen Tod.
Und das ist nicht alles.
Ich kenne kein Land, das die eigene Verfassung so hochhält wie Amerika. Ich habe noch nie von jemandem in Deutschland gehört, der in seiner Tasche eine Mini-Kopie des Grundgesetzes mit sich herumträgt, damit er es bei Meinungsverschiedenheiten mit der Polizei zücken kann. Ich wäre überrascht, wenn meine deutschen Freunde mir sagen könnten, in welchen Artikeln des Grundgesetzes das Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit steht. Die meisten US -Bürger könnten es. Bei uns gibt es Geschäfte, die zur Erbauung ihrer Kunden gern in Newslettern, online oder im Schaufenster ein »Zitat der Woche« anbieten – aus der Verfassung natürlich. Für uns wurde diese Schrift von weisen Männern verfasst, die keine Fehler machten und alle nur denkbaren Schwierigkeiten vorhersahen; sie ist heilig und unfehlbar, die Verfassung ist für uns … mein Gott, sie ist unsere Bibel!
Wenn er sich bedroht fühlt, wenn er Missstände wittert, greift der Amerikaner sofort zur Verfassung. Sagt man: »He, hältst du es wirklich für vernünftig, eine geladene Pistole mit dir herumzutragen?« oder: »Du kannst doch nicht in einer öffentlichen Rede Juden als ›kikes‹ und Schwarze als ›niggers‹ bezeichnen, das ist verletzend«, erwidert man: »Es steht in der Verfassung, dass ich das darf«, und schon dreht sich die Diskussion nicht mehr ums persönliche Verhalten, sondern um einen politischen Grundsatz. Wenn ein 13-jähriges Mädchen Widerrede gibt und von der Mutter aufs Zimmer geschickt wird, schreit es: »Ich kann sagen, was ich will! Es ist ein freies Land – es steht in der Verfassung.« Na gut, das Mädchen kommt nicht weit damit, aber versuchen muss sie es mindestens.
Unser Glaube an die Verfassung ist zuweilen irrrational: Wir denken wirklich, dass sämtliche politischen Probleme durch die richtige Interpretation der Verfassung gelöst werden können, ebenso wie ein fundamentalistischer Christ glaubt, die Bibel sei wortwörtlich auszulegen und liefere auch heute die einzig gültige Antwort auf alle Fragen. Auf die Idee kann man nur kommen, wenn man annimmt, dass die Gründerväter bei ihrem Tun wohl von Gott geleitet wurden. Und genau das glauben viele meiner Landsleute, auch wenn sie es nie so ausdrücken würden.
Der Soziologe Robert Bellah
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