Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
Erma Bombeck und Ann Landers her, die liebeskranke Leser mit bodenständigen Ratschlägen versorgen, und die Wörter »Ma« und »Pa« haben hier eine größere Bedeutung als anderswo.
Ach ja, und noch was: Westlich des Mississippi kann man mit Hinz und Kunz ein Gespräch anfangen – und wird man dann nach Hause eingeladen, kann es vorkommen, dass einer der Typen in Jeans und kariertem Hemd über dem Bierbauch, mit denen man beim Punsch über Colleges, Footballmannschaften und die Heuernte redet und die überhaupt keinen Hang zur europäischen Ironie haben, einen privaten Jet besitzt, gleich neben der alten Lagerhalle im nächsten Tal, wo er Maschinenteilchen für die NASA baut.
Bodenständigkeit, Bescheidenheit, gesunden Menschenverstand … um das zu finden, muss man schon in den Westen aufbrechen. Als das weite Land westlich des Mississippi plötzlich auch zu den Vereinigten Staaten gehörte und die Eisenbahn endlich die beiden Küsten verband, passierte etwas – eine Art inneres Erdbeben erschütterte uns Amerikaner, als wir verstanden, wie groß der Westen tatsächlich war und wie unendlich viele Möglichkeiten er uns eröffnete.
Es war wie eine zweite Chance, Amerika neu zu erfinden. Der Drang nach Westen in die Wildnis war eine Wiederholung dessen, was sich in den ersten Kolonien abgespielt hatte: Man konnte das Leben wieder ganz neu aufbauen, die Regeln neu erfinden, und sich selbst auch.
Es ist erstaunlich, wie schnell der Westen zur Legende wurde. Genau genommen sofort, noch während die Entdeckung und Besiedelung im Gange waren. Es war, als ob die Amerikaner nach einem neuen Bild von sich selbst suchten und wild entschlossen waren, es im Westen zu finden.
Der Cowboy zum Beispiel ist im Großen und Ganzen bloß eine Erfindung. Aber es war eine Erfindung, die uns gefiel. Besser als das Bild von uns selbst, das gerade im Nordosten entstand. Man muss sich das mal vorstellen: Dort lief die Industrielle Revolution auf Hochtouren. Das U-Boot wurde gerade erfunden, der Fahrstuhl, der Wolkenkratzer, die Straßenbahn … Im Westen war all das unwichtig. Stattdessen pusteten die Leute einander auf offener Straße um, weil sie sich im Kartenspiel betrogen hatten.
Das machte viel mehr Spaß.
Während sich im Osten ein stark reguliertes und gebildetes Bürgertum nach europäischem Vorbild entwickelte, mit all seinen Manieren und Statussymbolen, war das Leben im Westen ein existentieller, raubeiniger Kampf ums Überleben. Mit Schaudern blickte der anständige Ostküsten-Bürger nach Westen – niemals würde er so tief sinken wie diese kulturlosen Cowboys. Aber wie ungezügelt, frei und dreist sie waren! Im Westen waren Männer noch richtige Kerle, Frauen noch echte Weiber, man tat, was getan werden musste, niemand fragte nach Erlaubnis, jeder pfiff auf Anstand und Moral. Diese Westerner waren eindeutig aus anderem Holz geschnitzt: verkommene, sexy Biester, allesamt. Wieso, verdammt noch mal, waren sie nur so weit weg?
Das war übrigens noch gar nicht so lange der Fall: Im Jahr 1826 begann der Westen gleich hinter New York, und die Bilder, die wir heute zum Wilden Westen im Kopf haben – Bisonherden grasen in der Prärie, Cowboys und Indianer jagen einander durchs Monument Valley, in Utah ziehen sich die Planwagen bis zum Horizont –, waren noch gar nicht erfunden. Da erschien bereits der erste Wildwestroman.
Der letzte Mohikaner von James Fenimore Cooper war ein Riesenbestseller, eines der meistgelesenen Bücher seiner Zeit in Amerika und Europa. Es hatte noch keinen Cowboy als Protagonisten, sondern den Waldläufer und Pelzhändler Natty Bumpo, auch »Lederstrumpf« genannt. Trotzdem war er ein Held ganz nach dem Geschmack der Amerikaner: ein Abenteurer, in der Wildnis auf sich allein gestellt, weit weg von der Zivilisation, völlig autark. Und obendrein ein Imperialist mit goldenem Herzen: Er lebt zwar zumeist in Harmonie mit den Indianern, genau wie es später auch Old Shatterhand tun würde, aber die Indianer wissen, dass ihre Tage gezählt sind – und dass Natty Bumpo dann ihr Erbe antreten wird.
Mit anderen Worten: Die ultimative Ikone des amerikanischen Selbstbewusstseins wurde nicht im Dreck des Wilden Westens erfunden, sondern an einem Schreibtisch im Nordosten.
Das heißt aber nicht, dass es diese Art Amerikaner in Wirklichkeit nicht gab:
Daniel Boone wuchs inmitten einer Quäkerfamilie mit zehn Geschwistern in einer zugigen Holzhütte in Pennsylvania auf, wo er mit 12 sein erstes Gewehr bekam
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