Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
Diskussion unter Experten: Was war diesmal daran wieder historisch falsch?
Oft geht es um die Helden: Keiner von ihnen hatte so eine weiße Weste, wie gerne behauptet wird. Wyatt Earp wird meist als eiserner, gesetzestreuer Marshall dargestellt; unter den Tisch fällt dabei, dass er selbst mehrfach verhaftet wurde, einmal aus dem Gefängnis ausbrach, sich zeitweilig entweder als Türsteher im Puff verdingte oder gar selbst als Zuhälter – und unter dem Schutzmantel seiner sporadischen Tätigkeit als Marshall mehrere Gegner kaltblütig ins Jenseits beförderte.
Vor allem auch wird die Schießerei im Film ständig stark dramatisiert: Eine halbe Stunde lang jagt man einander durch die Stadt, tauscht melodramatische Floskeln aus, versucht, einander zum Aufgeben zu überreden. Dabei hat die echte Schießerei nur 30 Sekunden gedauert. Dreißig Kugeln in 30 Sekunden!
Moment mal. Dreißig Kugeln in 30 Sekunden? Das ist immerhin schon über 100 Jahre her, und das im chaotischen, gesetzlosen Wilden Westen. Woher weiß man das denn so genau? Hat da jemand danebengestanden und die Zeit gestoppt?
Cowboys sieht man in Western viele, Revolverhelden und tapfere Sheriffs auch, ferner Vieh- und Eisenbahnbarone, und natürlich dürfen weder die Prostituierten noch die Chinesen fehlen. Etwas seltener sieht man die Journalisten.
Doch mit der Erfindung des Telegraphen, und das ist hochinteressant, wurde der Journalismus über Nacht revolutioniert. Plötzlich konnte man von überallher Berichte kriegen über praktisch alles, und das innerhalb kürzester Zeit. Im Bürgerkrieg waren die Zeitungen die heimliche dritte Macht, und nach Ende des Krieges wandte sich das Augenmerk der Journalisten gen Westen, wo noch was los war. Sie waren überall, eine echte Plage.
Schon am Tag nach der Schießerei am O. K. Corral wurde das Ereignis ausführlich in Tombstones beiden Zeitungen The Epitaph und The Nugget beschrieben. Das war aber erst der Auftakt. Im Rahmen der 30-tägigen Anhörung wurde jedes Detail sorgfältig von allen Seiten beleuchtet. Es war wie CSI : Tombstone . Der Gerichtsmediziner beschrieb, wer wie von Revolvern, Schrotflinten oder Gewehren durchsiebt worden war. Die Cowboys behaupteten, sie hätten mit erhobenen Händen um ihr Leben gebettelt und dass einer von ihnen durch einen Schuss aus nächster Nähe sofort getötet worden sei. Allerdings wies seine Kleidung dann keine Schießpulverrückstände auf … So gut wie jeder in der Stadt sagte aus. Die meisten von ihnen waren jedoch irgendwie mit der einen oder anderen Seite verbandelt – heißt, sämtliche Aussagen waren widersprüchlich. Es wurden Skizzen von dem Corral und den umliegenden Straßen angefertigt usw.
Am Ende wurde zugunsten der Earps entschieden, und alle Parteien waren endlich frei, das zu tun, was sie wirklich wollten: einander über die nächsten Wochen zu jagen und gegenseitig umzubringen.
All das wissen wir, weil haarklein davon in den Zeitungen berichtet wurde. Und die Artikel wurden nicht nur in Tombstone gelesen. Im Osten gierte man geradezu nach Neuigkeiten aus dem Wilden Westen. Die Nachfrage wurde so groß, dass Zeitungsberichte bald schon nicht mehr ausreichten. Man musste zu härteren Mitteln greifen.
Das erkannte schnell eine gewisse Zeitungslektorin namens Ann Sophia Stephens im nordöstlichen Portland, Maine. Sie brachte eine neue Industrie ins Rollen, als sie den Zehn-Cent-Roman Maleaska, the Indian Wife of the White Hunter ( Maleaska, das Indianerweib des weißen Jägers ) herausgab: Groschenhefte waren der Trend der Zukunft.
Die Autorin erzählt vom Schicksal einer Indianerfrau, die einen Weißen heiratet und nach dessen Tod unter seinesgleichen zu leben versucht. Schnell wurde diese Heldin mit beschränktem Identifikationspotential dann allerdings von Cowboys und Revolverhelden abgelöst, deren Abenteuer tagtäglich neu an jeder Ecke zu haben waren. Die meisten waren frei erfunden. Sie wurden zwar tatsächlich lebenden »Gunslingers« angedichtet, denn dann verkauften sie sich besser, doch diese ahnten zum Glück ja nichts davon …
Einige Autoren aber waren ehrgeiziger, begaben sich selbst in den Westen und suchten ihre Lieblings-Revolverhelden tatsächlich persönlich auf.
So wurde William Cody etwa von einem Groschenheftschreiber namens Ned Buntline aufgespürt. Besagter Cody kam in Iowa als Sohn eines Quäkers zur Welt, kämpfte im Bürgerkrieg und arbeitete danach als Jäger für die Kansas Pacific Eisenbahn. Seine Spezialität:
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