Planlos ins Glueck
„Dieser Jessie setzt bestimmt bald ein Kind in die Welt. Wird garantiert ein Bastard, aber unfassbar süß.“
Niemand reagierte auf Olives Gezänk. Jane blätterte ein paar Seiten weiter. Es war schon erstaunlich, wie plötzlich sie damals begonnen hatte, sich zu verändern. In der vierten Klasse hatte sie die ersten Kurven bekommen, aber trotzdem noch kindlich gewirkt. Erst ein paar Seiten später fing die neue Dynasty an, sich durchzusetzen. Die Dynasty mit kurzem Haar und zu viel Makeup. Ihre Augen strahlten noch, aber um ihren zu einem koketten Lächeln verzogenen Mund lag bereits ein harter Zug. Und dann verschwand auch das kokette Lächeln. Was übrig blieb, waren ein Schmollmund, ein finsterer Blick und weißblondes Stachelhaar. Das Mädchen wurde immer größer, die Röcke immer kürzer.
Jane klappte das Buch zu. Die Scham über ihr Verhalten hatte sie seit Jahren auf Schritt und Tritt begleitet. Sie war zu einem festen Bestandteil ihres Körpers geworden. Und beim Anblick dieser Fotos blähte sich die Scham auf, wurde so groß, dass Jane das Gefühl hatte, gleich zu explodieren.
Sie atmete tief durch und wiederholte in Gedanken ihr altes Mantra: „All das ist lange her. Was vergangen ist, ist vergangen.“ Trotzdem fuhr sie zusammen wie vom Blitz getroffen, als es an der Tür klingelte.
„Die Pizza!“, rief ihre Mom und sprang auf. „Mac! Die Pizza ist da!“
Jane holte die DVD aus ihrer Tasche und legte sie ein. Mac kam mit Papptellern und Besteck dazu und setzte sich neben seine Stieftochter auf die Couch.
Ein Film, Bier und Pizza. Gemütlicher hätte der Abend eigentlich nicht sein können. Doch Janes Gedanken kreisten unaufhörlich um das Fotoalbum. Sie war so … jung gewesen. In der einen Minute ein kleines Mädchen, in der nächsten ein männerfressender Vamp.
Nicht, dass ihr all das nicht schon vorher klar gewesen wäre. Aber die Bilder hatten ihr noch etwas anderes gezeigt. Etwas, das sie verdrängt hatte.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie glücklich gewesen war. Oh, als Teenager natürlich nicht. Aber davor. Davor war sie glücklich gewesen.
Sie hatte immer nur die schrecklichen Jahre in Erinnerung gehabt, in denen sie von Stadt zu Stadt, von Gefängnis zu Gefängnis gezogen waren. Die neuen „Daddys“ mit dem harten Blick und die bewaffneten Wärter. Die dünnen Wände der wechselnden Wohnwagen und die Kakerlaken im Abfluss. Aber eine Zeit lang, gleich nachdem Mac entlassen worden war und sie eine richtige Familie geworden waren, war sie glücklich gewesen.
Sie hatte eine Familie gehabt und ein Haus und einen richtigen Garten zum Spielen. Ihr eigenes Schlafzimmer und einen Vater, der tatsächlich bei ihnen gelebt hatte. Sie war ohne Anstrengungen gut in der Schule gewesen. Ihr war es gut gegangen.
In diesen wenigen kurzen Jahren war alles perfekt gewesen. Wie hatte sie das nur vergessen können?
Jane nippte an ihrem Bier und ließ den Kopf gegen Macs Schulter sinken. Sie konnte nur hoffen, dass er die paar Tränen, die in sein T-Shirt sickerten, nicht bemerkte. Ihr war ganz schwummrig, und die Nähe ihres Dads war gerade genau das, was sie brauchte. Gefängnistattoos hin oder her, er war der beste Mann, den sie jemals kennengelernt hatte. Der Beste. Wovor zur Hölle war sie die ganze Zeit über weggelaufen? Am Sonntagmorgen wachte Chase viel zu spät und todmüde auf. Die Nacht war hart gewesen. Sein Dad hatte ihn gegen zehn Uhr und offensichtlich betrunken angerufen. Er hatte ein paarIdeen vortragen wollen, wie er Jessie vom Mordverdacht befreien könnte. Chase hatte ihn erinnert, dass Jessie bereits aus dem Schneider war, aber ehe er auflegen konnte, musste er sich noch eine ganze Weile anhören, wie sein Vater in Erinnerungen an seine Mom geschwelgt hatte.
Danach hatte er bis zwei Uhr morgens wachgelegen. Jetzt war es neun, und er war so fertig, als hätte er kein Auge zugetan. Er fühlte sich so, wie seine Angestellten aussahen, wenn sie nach einer langen Partynacht verkatert auf der Baustelle erschienen: einfach scheiße.
Stöhnend ließ er seinen Kopf zurück ins Kissen fallen. Musste die Sonne eigentlich so hartnäckig durch sein Schlafzimmerfenster blitzen?
Und dann hörte er es: das leise Klingeln seines Handys. Er setzte sich auf und warf einen misstrauischen Blick auf den leeren Nachttisch. Warum lag sein Telefon nicht da, wo es hingehörte? Hatte er sich gestern Abend vielleicht wirklich betrunken? Mann, vielleicht hatte er ja alle Vorsicht in den Wind
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