Plasma City
Magen in Aufruhr.
Rohder residiert im 106. Stock, der gerade umgebaut wird – Wände werden herausgerissen oder durchgebrochen, Ziegelsteine und Betonklötze liegen in Stapeln bereit, die Einrichtung ist mit Plastikplanen verhüllt und an den Wänden sind Gerüste aufgebaut. Trotz der Unordnung ist das Knirschen des Staubs unter den Schuhen das einzige Geräusch, das Aiah hört. Es ist, als wären die Arbeiten schon vor längerer Zeit unterbrochen worden.
Auch wenn Rohder eigentlich keine klare Aufgabe mehr hat, er ist immer noch angesehen genug, um ein Eckbüro zu bekommen. Auf dem Schreibtisch und dem Stuhl der Empfangsdame liegt eine unberührte Staubschicht, die Tür zum Nachbarzimmer steht offen. Aiah riecht Rohders Zigarettenrauch, bevor sie das Büro betritt.
Riesige Statuen, glänzende Bronzefiguren von Menschen mit Adlernasen und mindestens zehn Stockwerke hoch, sind in die Ecken des Gebäudes eingesetzt und starren mit Schlitzaugen auf die Stadt hinunter. Die Figuren sollen die Engel der Kraft darstellen oder so etwas. Die Fenster von Rohders Büro erlauben einen prächtigen Ausblick auf die Profile zweier dieser Statuen. Rohder, ein vergleichsweise unscheinbarer Mann, sitzt hinter einem riesigen Schreibtisch. Vorn ist auf einer Bronzetafel ein symbolisches Strahlenbündel abgebildet, dessen Pracht Rohder eher verblassen lässt als seine Bedeutung zu unterstreichen. Er sieht aus, als würde er immer noch denselben schlecht sitzenden grauen Anzug tragen, den er bei der ersten Begegnung mit Aiah getragen hat. Und natürlich hängt eine Zigarette in seinem Mundwinkel.
Mit wässrigen blauen Augen schaut er zu ihr auf und braucht einen Augenblick, um sie zu erkennen. Dann nickt er, steht auf und wischt Zigarettenasche von der Halskrause. »Anscheinend haben Sie ja den Weg durch das gefunden, was früher meine Abteilung war«, sagt er.
»Sie wollen mich sprechen?«
»Ich möchte mich mit Ihnen über den Terminal unterhalten.«
Die alte Toilette ist zugemauert, beruhigt Aiah sich. Die Anlage wird jetzt angezapft und selbst wenn Rohder etwas findet, stößt er nicht auf ein riesiges, unerschlossenes Potenzial. Er wird nicht mehr beweisen können, dass die Energiequelle nicht schon vor langer Zeit erschlossen und ordnungsgemäß registriert worden ist.
Kein Grund, sich Sorgen zu machen, denkt Aiah. Doch als sie sich dem Mann weiter nähert, spürt sie Insektenbeine über ihren Bauch trippeln.
Rohders Teppich ist mit Plastikfolie bedeckt, die unter Aiahs Absätzen knistert. In einer Ecke steht ein großer Polsterstuhl mit einem in die Lehne eingearbeiteten kupfernen Handsender. Er hat also hier, in einem Büro, das in zwei Himmelsrichtungen Fenster besitzt, direkten Zugang zum Plasma.
Auf seinem Schreibtisch liegen Karten, erkennt sie jetzt. Die Ecken sind jeweils mit einem randvollen Aschenbecher festgeklemmt. Sie kennt die Karten sehr genau.
»Wie sind Sie eigentlich in die alte Pneumastation hinuntergekommen?«, will Rohder wissen.
»Es ist gefährlich da unten«, erwidert Aiah. »Wenn Sie möchten, kann ich Sie führen.«
»Ah.« Rohders Hände durchforschen abwesend die Jackentaschen, finden keine Zigaretten und entdecken sie etwas später in einer Schublade. »Nun, das ist freundlich von Ihnen, aber ich dachte, ich kann es mithilfe der Telepräsenz auch von hier aus erledigen.«
Die Angst kriecht Aiahs Rücken hinauf. »Oh«, macht sie.
Rohder zündet sich die nächste Zigarette am Stummel der letzten an. Sein gerötetes Gesicht und die babyblauen Augen bilden einen seltsamen Kontrast zum faltigen Gesicht, in dem dank des Schildlichts, das durch die großen Fenster hereinfällt, jede Falte überdeutlich hervortritt.
Letzten Endes kommt alles nur darauf an, wie gut Rohder ist, denkt Aiah. Wenn er die Umrisse der alten Plastikfabrik findet, kann er sich eine eigene Karte zeichnen – aber nur wenn er gut genug ist, um seine Anima durch feste Materie zu projizieren. In dieser schwierigen Kunst hat Aiah noch keine praktischen Erfahrungen, aber was sie weiß, ist schon in der Theorie beängstigend genug. Man muss dazu einen ganz eigenen Sinnesapparat entwickeln und auf eine Weise empfinden, wie es ein Mensch normaler weise nicht vermag. Man muss Unterschiede in der Dichte der Materie spüren, man muss Ziegel von Fels und Stahl unterscheiden, all dies in Wissen umsetzen und natürlich navigieren, ohne sich zu verirren …
Aber Rohder ist wirklich gut. Mengene sagte, er sei ein echter Magier. Aiah
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