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Plasma

Plasma

Titel: Plasma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Carlson
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beugte sich über das schmale Bett und nahm die Zudecken ab. Dann kniete er an der Tür nieder und stopfte die lose Masse unten in den Spalt hinein.
    »Das Fenster«, sagte Ruth. Cam riss die Kommodenschubladen auf und warf sie auf den Boden. Er packte ein Bündel Hemden und Unterwäsche und dichtete damit die Fensterschlitze so gut wie möglich ab. Alle atmeten schwer. »Gut so?«, fragte er.
    Ruth schüttelte den Kopf und nickte gleich darauf. Die Schmerzen verwirrten sie. »Mehr können wir nicht tun«, sagte sie. »Macht euch darauf gefasst, dass es noch schlimmer wird.«
    In diesem unverseuchten Raum mussten die Impf-Nanos nur die Seuchenpartikel zerstören, die sich bereits in ihrem Blutkreislauf befanden oder die sie mit ihrer Kleidung und der Zugluft eingeschleppt hatten. Aber sie hatten sich durch das schnelle Laufen erhitzt und damit die Absorptionsrate beschleunigt.
    Ruth weinte. Ein neuer Schmerzfaden zog sich durch ihren linken Fuß, und die Messer in ihrem Arm glühten, fraßen sich in das Knochengewebe, verkrampften jeden Muskel. Ihre Finger erstarrten zu Klauen. Im Halbdunkel wirkte das Kinderzimmer chaotisch und für drei ruhelose Erwachsene viel zu eng. Ihre Klaustrophobie breitete sich wie ein Krebsgeschwür aus, lähmte ihre Intelligenz und ließ nur noch Raum für kindisches Entsetzen und Reue.
    Cam ertrug die Qualen schweigend, während Newcombe mit der Faust gegen die Wand hämmerte.
    »Nicht«, wisperte Ruth. »Nicht.«
    Endlich ließ das entsetzliche Brennen nach und ging in normalere Schmerzen über. Es war geschafft. Sie nahmen ihre Masken und Schutzbrillen ab und sogen die abgestandene Luft gierig ein. Aber Ruth hielt den Blick gesenkt. Sie fühlte sich zu verwundbar. Und irgendwie schämte sie sich, weil sich in ihre Dankbarkeit eine Spur von Abscheu mischte.
    Cam war ein Monster, gezeichnet von alten Wunden. Auf seiner dunklen Latinohaut hatten sich immer wieder Blasen und Wucherungen gebildet, oft an den gleichen Stellen. Wulstige Narben entstellten seine Wange, sein Bart wies kahle Flecken auf. Noch schlimmer sahen seine Hände aus. Sie waren mit Schrunden und Ausschlag übersät, und an der Rechten hatte er neben dem Daumen nur noch zwei gesunde Finger. Der kleine Finger war ein verkrümmter Stummel aus totem Gewebe, zerfressen fast bis an den Knochen.
    Ruth Goldman war nicht sonderlich gläubig. Seit sie im Berufsleben stand, hatte sie sich meist mehr um ihre Arbeit als um Chanukka- oder Passah-Feste gekümmert, es sei denn sie besuchte ihre Mutter. Aber was sie jetzt empfand, grenzte an das Mystische, es war zu inbrünstig und zu komplex, als dass sie es sofort zu fassen bekam. Sie wollte lieber sterben, als so zu leiden, wie er gelitten hatte, und doch bewunderte sie ihn, wünschte sich seine Ruhe und seine Stärke.
    Cam kramte seine letzten Vorräte aus dem Rucksack, etwas Wasser, gepfeffertes Rauchfleisch und Cracker. Ruths Magen war verkrampft und übersäuert, aber er drängte sie, eine Kleinigkeit zu essen. Und es half auch ein wenig. Außerdem hatte er noch eine Schachtel von diesem Schmerzmittel, Motrin, und gab jedem von ihnen vier Kapseln – eine schwache Überdosis. Dann versuchten sie alle auszuruhen, obwohl sie den Höhepunkt der Erschöpfung überschritten hatten und sich hellwach fühlten. Die Männer überließen Ruth das schmale Bett und räumten für sich selbst eine Ecke des Fußbodens frei. Doch Ruth konnte in dieser Nacht nicht mehr einschlafen.
    Im gelbgrauen Frühlicht wirkte der Raum größer und, von dem Durcheinander auf dem Fußboden mal abgesehen, auch einigermaßen ordentlich. Die Poster. Die Spielzeug-Roboter und Bücher in den Regalen. Ruth versuchte, sich nicht von diesen Dingen beeinflussen zu lassen, aber sie war todmüde. Sie hatte Schmerzen, trauerte um diesen unbekannten Jungen und um alles, wofür er stand – und halb verdeckt von ihrem Elend lauerte ein kalter, störrischer Zorn.
    Sie war bereit weiterzukämpfen.
    Sie wusste, dass es die Sache wert war.
    Auch wenn die Bedingungen oben in den Bergen nahezu unerträglich waren, konnte man das nicht als Entschuldigung für die Entscheidungen von Leadville gelten lassen. Wenn die Regierung den Sieg davontrug, wenn sie es zuließ, dass die meisten Überlebenden oberhalb der Todeszone ausgerottet wurden, dann war das ein Verbrechen, das schwerer wog als die Pest selbst. Was dieser ausgestorbene Ort und jeder andere seiner Art verdiente, war neues Leben. Einen Neuanfang. Die Ruinen sollten

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