Plasma
und sie aufzunehmen. Die beiden nordamerikanischen Nationen hatten knapp dreihundert Jahre als Freunde und Verbündete nebeneinander bestanden. Aber nun war Kanada bereit, mit nicht weniger als vier Kampfgeschwadern die Grenze zu überschreiten und in voller Stärke die Jagdflugzeuge von Leadville abzufangen. Newcombe wollte zum Highway 65 nördlich von Roseville, und Ruth war versucht, auf ihn zu hören. Sie sehnte sich nach Sicherheit. Nach warmen Mahlzeiten. Nach einer Dusche, Herrgott noch mal. Aber es würde auch bedeuten, dass sie, sobald sie das Wasser überquert hatten, weiter in den Norden vordringen und in den Tiefebenen bleiben mussten, anstatt ostwärts in die Berge zu wandern. Und da war noch eine Angst, tief in ihrem Innern ...
»Dort.« Newcombe breitete die Karte mit bloßen Händen aus und fuhr mit dem Zeigefinger von Citrus Heights nach Roseville. Seine Knöchel waren wund und schorfig. »Sehen Sie nur, wie nahe das liegt. Wir könnten in ein bis zwei Tagen dort sein.«
»Ich weiß nicht recht«, meinte Ruth und berührte die von der Schutzbrille aufgescheuerten Stellen an ihren Wangen. Sie dachte an den Fallschirmspringer-Hinterhalt, der Newcombes Trupp ausgelöscht hatte. »Sie würden mit einem dieser großen Transporter landen, nicht wahr?«
»Nicht unbedingt. Ich an ihrer Stelle würde eher eine kleine, schnelle Maschine schicken.«
Der Gedanke, sich in ein Flugzeug zwängen zu müssen, rief in Ruth erneut ein Gefühl der Klaustrophobie hervor. Voller Unbehagen betrachtete sie die Wände des Kinderzimmers. Nicht alle Mitglieder der ISS-Besatzung hatten die Bruchlandung der Endeavour überlebt. »Eine einzige Rakete würde reichen, um so ein Ding abzuschießen«, gab sie zu bedenken. »Und die Leute von Leadville werden alles tun, damit der Impf-Nano nicht in fremde Hände kommt. Das haben sie ja schon bewiesen.«
»Es gibt Abwehrmöglichkeiten gegen Luft-Luft-Raketen, vor allem, wenn die Geleitmaschinen keine fremden Flugzeuge in die Nähe lassen«, sagte Newcombe. »Und vergessen Sie nicht die Helikopter. Wir hatten bis jetzt Glück, dass uns keiner erwischte.«
»Aber hier sind wir den Bergen so nah.« Sie schaute ihn bittend an. »Es geht doch darum, die Impf-Nanos möglichst weit zu verbreiten, damit keine Macht der Welt sie unter ihre Kontrolle bringen und als Druckmittel verwenden kann.« Sie befürchtete, dass die Kanadier die gleichen selbstsüchtigen Ziele verfolgten wie Leadville. Insgesamt gesehen hatten sie noch schlimmere Verluste erlitten als die USA, und es konnte durchaus sein, dass sie die Nanotechnologie ebenfalls als Möglichkeit betrachteten, ihre Nation zu neuer Größe zu führen.
»Von nah kann nicht die Rede sein«, entgegnete Newcombe. »Da! Sehen Sie sich die Karte genau an! Wir sind immer noch an die hundert Meilen von der Sierra entfernt, und das Gelände wird weiter ansteigen. Sie müssen sich klarmachen, dass es Wochen dauern wird, bis wir die Höhenlagen erreicht haben. Und Sie wissen nicht einmal, ob dort oben Menschen leben. Es wäre durchaus möglich, dass wir einen weiteren Monat durch die Gegend irren, ehe wir auf einen Gipfel mit Überlebenden stoßen.«
Und die könnten uns gefährlich werden, überlegte Ruth. Unwillkürlich wanderten ihre Blicke zu Cam. Es war ein reales Risiko, das ihr Sorgen bereitete. Manche dieser Überlebenden würden vermutlich so verzweifelt sein, dass sie sich weiß Gott nicht darum scherten, warum sie gekommen waren. Aber sie sprach den Gedanken nicht aus, weil sie Newcombe kein weiteres Argument liefern wollte. Ruth glaubte ehrlich, dass die meisten Menschen ihnen helfen würden. Und sobald sie vier oder fünf Gruppen erreicht hatten, die sich bereit erklärten, den Impf-Nano in alle Richtungen zu verteilen, war das Projekt nicht mehr zu stoppen. Die Todeszonen würden sich mit neuem Leben füllen.
»Es ist unsere beste Chance, von hier wegzukommen.« Newcombe blieb hartnäckig.
Ich bin stärker als du, erkannte Ruth zwar, aber sie musste doch vorsichtig sein. Einen Feind in den eigenen Reihen konnte sie sich nicht leisten. »Mir gefällt die Sache einfach nicht«, sagte sie.
Endlich meldete sich Cam zu Wort, und Ruth war ihm dankbar dafür. »Ich weiß, was ich anstelle der Regierung täte«, meinte er. »Leadville braucht das Gebiet hier nicht – jedenfalls nicht, wenn wir es verlassen. Wenn ich annehmen müsste, dass uns die Kanadier zur Flucht verhelfen, würde ich Atombomben abwerfen. Hier. In Oregon. Wo immer
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