Platon in Bagdad
des Drehpunkts von der Wirkungslinie des Gewichts. Das kennt man heute als »Kraftmoment« oder »Drehmoment«, ein Maß für den Wirkungsgrad bei der Drehung der Waage. Dabei entsteht ein Gleichgewicht, wenn die beiden Drehmomente gleich und gegenüberliegend sind.
Jordanus »bewies« dann das Hebelgesetz, das besagt, dass sich zwei Gegenstände im Gleichgewicht halten, wenn ihre Gewichte umgekehrt proportional zu ihren Hebelarmen sind. Hier verwendete er den Begriff »Arbeit«, das Produkt aus dem Gewicht eines Gegenstands und der Wegstrecke, über die er gehoben oder anderweitig bewegt wird, die erste klare Definition dieses grundlegenden Begriffs in der Physik. Er führte auch den Begriff »virtuelle Geschwindigkeit« ein, das ist eine verschwindend geringe Geschwindigkeit, weil in einem System im Gleichgewicht keine echte Bewegung stattfinden kann. Diesen Begriff benutzte er für die Untersuchung zweier an einem Hebel im Gleichgewicht befindlicher Gegenstände, wo in einer virtuellen Verrückung die geleistete positive Arbeit beim Anheben eines Gewichts der negativen Arbeit beim Absenken des anderen entspricht, was zu der Schlussfolgerung führt, dass sich das System im Gleichgewicht befindet. Sein Beweis enthält das, was man das »Axiom des Jordanus« nennt,wonach die Kraft, die eine bestimmte Last um eine gegebene Strecke anhebt, die k-fache Last auf 1/k-fache Höhe heben kann, wobei
k
eine beliebige Zahl ist.
Die gleichen Begriffe wendete Jordanus auf das Gleichgewicht zweier verbundener Gewichte auf schiefen Ebenen mit verschiedener Neigung an, was er als verallgemeinerten Fall des Hebelgesetzes betrachtete. Der Beweis bezieht sich auf ein Dreieck
ABC
, mit
BC
als Basis und im rechten Winkel mit A, wobei ein Flaschenzug zwei Gewichte verbindet, mit w(1) an der Seite AB und w(2) an der Seite AC. Er bewies, dass sich die beiden Gewichte im Gleichgewicht befinden, wenn ihre Hangabtriebskräfte gleich sind – d. h., wenn die Komponenten jedes Gewichts auf seiner Ebene dem der anderen in entgegengesetzter Richtung entsprechen. Das lässt sich mit der Gleichung w(1)/w(2) =
AB/AC
darstellen, und somit dem Hebelgesetz.
In Jordanus’ Arbeiten zur Mathematik ist kein islamischer Einfluss zu erkennen; hier steht er eher in der griechisch-römischen Tradition von Nikomachos und Boëthius. Als Erster verwendete er bei arithmetischen Aufgaben zur Verallgemeinerung die Buchstaben des Alphabets, und er befasste sich mit algebraischen Fragestellungen, die zu linearen und quadratischen Gleichungen führten. Er beschäftigte sich auch mit der Geometrie und folgte Archimedes in der Bestimmung des Schwerpunkts bei Dreiecken und anderen ebenen Figuren. Auch im Bereich der stereographischen Projektion war seine Forschung bahnbrechend.
Der als Gerhard von Brüssel bekannte Gelehrte, offenbar ein Kollege des Jordanus, war möglicherweise der erste Europäer, der sich mit der Kinematik, der rein mathematischen Beschreibung von Bewegung befasste. Seine Abhandlung zur Kinematik,
De motu
, die zwischen 1187 und 1260 entstand, war weitgehend von Euklid und Archimedes beeinflusst.
Im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entwickelte eine Gruppe von Gelehrten am Merton College in Oxford die begrifflichenGrundlagen und den Wortschatz für die neue Wissenschaft der Bewegung. Die Gruppe bestand aus Thomas Bradwardine, William Heytesbury, John Dumbleton und Richard Swineshead; sie setzte die von Robert Grosseteste begonnene wissenschaftliche Tradition Oxfords fort.
Thomas Bradwardine (um 1290 – 1349) erwarb zwischen 1321 und 1348 Baccalaureus-, Magister- und Doktorgrad in Oxford und war 1323 – 1335 Fellow am Merton College. 1339 wurde er Kaplan und möglicherweise auch Beichtvater Edwards III., denn 1346 begleitete er den König auf seinem Feldzug nach Frankreich. Am 4. Juni 1349 wurde er zum Erzbischof von Canterbury gewählt, starb aber schon am 26. August des Jahres an der Pest.
Bradwardines Hauptwerk ist der 1328 fertiggestellte
Tractatus proportionum
. Es war sein Versuch, die aristotelische Bewegungslehre mit einer passenden mathematischen Funktion darzustellen. In der Bewegungslehre des Aristoteles ist die Geschwindigkeit (v) eines Gegenstandes proportional zur Kraft (p) des Bewegers, geteilt durch den Widerstand (r) des Mediums. Bradwardine konzentrierte sich auf die Veränderung der Geschwindigkeit und nicht auf die Geschwindigkeit selbst und versuchte zu zeigen, wie diese sich zur Kraft und zum Widerstand verhielt.
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