Platon in Bagdad
Weihnachten 1499 erklärte Papst Alexander VI. das darauf folgende Jahr zum Jubeljahr. Es war ein Heiliges Jahr, in dem allen Pilgern ein Sonderablass gewährt wurde, die nach Rom kamen und dort die vier Hauptkirchen der Stadt besuchten, vor allem St. Peter, deren Pforten in dieser Zeit Tag und Nacht geöffnet blieben. Die Feierlichkeiten dauerten das ganze Jahr über, und am Ostersonntag drängten sich geschätzte 200 000 Pilger auf dem Petersplatz, um den päpstlichen Segen zu empfangen. Der fromme Mönch Petrus Delphinus rief daraufhin aus: »Gelobt sei Gott, der so viele Zeugen des Glaubens herbeibringt.« Und Sigismondo de’ Conti, der Sekretär des Papstes, merkte in seiner Chronik an: »Alle Welt war in Rom.«
Unter den Pilgern befand sich der junge Nikolaus Kopernikus, der um Ostern in Rom eintraf und ein ganzes Jahr lang blieb, in dem er Vorlesungen in Astronomie und Mathematik gab. Die italienische Renaissance stand in voller Blüte, und Kopernikus erlebte Rom auf dem Höhepunkt seines Ruhms, bevor er in seine Heimat zurückkehrte, »diesen sehr entlegenen Winkel der Erde«.
Kopernikus wurde am 19. Februar 1473 in Thorn geboren, einer Stadt an der Weichsel, die damals zu Preußen gehörte und sich jetzt im nördlichen Polen befindet, etwa 200 Kilometer nordwestlich von Warschau. Sein eigentlicher Name war Niklas Koppernigk, den er nach dem Studium zu Nicolaus Copernicus latinisierte. Er war das jüngste von vier Kindern eines wohlhabenden Kaufmanns,neben dem Bruder Andreas und den Schwestern Barbara und Katharina. Sein Vater starb 1483, woraufhin der Onkel mütterlicherseits, Lukas Watzenrode, die Kinder adoptierte, ein Priester, der an den Universitäten Krakau, Köln und Bologna studiert hatte.
1489 wurde Lukas Fürstbischof im Ermland, auch Warmia genannt; es gehörte zu den vier Provinzen, in die Preußen damals aufgeteilt war. Das Bischofspalais befand sich in Heilsberg (Lidzbark Warmiński), über 200 Kilometer nordöstlich von Thorn, während der Dom des Bistums in Frauenburg (Frombork) stand, am Ufer des Frischen Haffs östlich von Danzig (Gdańsk). Nikolaus und Andreas wohnten bei ihrem Onkel im Palais in Heilsberg; Barbara trat in ein Kloster ein und Katharina heiratete einen Krakauer Kaufmann.
Im Herbst 1491 schickte der Onkel Nikolaus und Andreas auf die Universität Krakau, wo sie sich an der Artistenfakultät einschrieben. Sie blieben drei oder vier Jahre dort, verließen jedoch die Universität ohne Abschluss. Über diese Zeit weiß man, dass Nikolaus Kurse in Mathematik, Astronomie, Astrologie und Geographie belegte und Cicero, Vergil, Ovid und Seneca zu seiner Lektüre zählten.
Der namhafte polnische Astronom Albert Blar von Brudzewo lehrte damals an der Universität Krakau. Nikolaus muss seine Werke gelesen haben, obwohl es nicht belegt ist, dass sie einander persönlich kennenlernten. Albert hatte einen Kommentar zu Peuerbachs Planetentheorie veröffentlicht, in dem er seine eigene Theorie darlegte, wonach die Himmelskörper nicht Kugeln, sondern Kreise seien. Er verwendete auch eine mathematische Methode analog zu den arabischen Astronomen Nasr al-Din al-Tusi und Ibn asch-Schatir, die einem Modell ähnelt, auf dem Kopernikus später mit seiner heliozentrischen Theorie aufbaute.
In seinen Kursen der Mathematik, Astronomie und Astrologie las Kopernikus unter anderem Bücher von Euklid, Ptolemaios, Sacrobosco, Peuerbach und Regiomontanus. Die Werke einiger arabischer Astronomen standen in Krakau damals auch zur Verfügung,darunter die von Mascha’allah, al-Farghani, al-Kindi, Thabit ibn Qurra und Dschabir ibn Aflah. In der Buchhandlung von Johann Haller kaufte Kopernikus unter anderem die
Alfonsinischen Tafeln
und die
Tabulae directionum
des Regiomontanus, die er mit Teilen aus Peuerbachs Finsternistafeln und Tafeln der Planetenörter zusammenbinden ließ.
Anfang 1496 verließen Nikolaus und Andreas Krakau, um bei ihrem Onkel Lukas im Bischofspalais in Heilsberg zu wohnen. Lukas nominierte Nikolaus und Andreas als Domherren des Doms in Frauenburg, doch blieben seine Bemühungen zunächst erfolglos. Schließlich wurde Nikolaus 1497 und Andreas 1499 zu Domherren gewählt. Beider Wahl erfolgte in Abwesenheit, denn Nikolaus war im Herbst 1496 zum Studium an die Universität Bologna gegangen; Andreas schloss sich ihm zwei Jahre später an. Beide waren an der Juristenfakultät immatrikuliert und traten der Natio Germanorum bei, der größten der »Nationen«, der Organisationen
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