Plattenbaugefühle: Jugendroman
dafür sorgen, dass die beiden Familien sich durch die Liebe ihrer jüngsten Kinder wieder versöhnen können.
Wir stehen zu zweit auf der Bühne. Das ist schwerer, als ich gedacht habe. Anja verbessert mich drei, vier Mal. Mein größtes Problem ist, wie ein ruhiger, besonnener Mensch, ein Pfarrer und vorbildlicher Lehrer gemächlich und vernünftig zu reden. Ich spräche immer zu schnell und zu schnodderig. Das nächste Problem ist, dass ich zunächst nicht moralisch genug sein kann – ich soll ja Romeo dafür schelten, dass er Rosalinde schon vergessen hat. Dann denke ich an den herrischen Ton meines Vaters – und dadurch geht es besser.
Beim vierten Mal kriegen wir die Szene in einem durch, ohne dass einer von uns zweien – Romeo konnte den Text bereits auswendig – stocken muss.
»Ja, genau! Habt ihr anderen das gesehen?« Anja ist begeistert von unserer Leistung, »und ihr zwei, habt ihr es gespürt?« Sie führt ihre Handflächen an ihr Herz, »genauso haben sich Lorenzo und Romeo in diesem Moment gefühlt«, sie schaut uns mit Bewunderung an, »genau so!« ruft sie in einem glockenhellen Ton durch den Raum und die anderen bejubeln uns mit einem rhythmischen Applaus.
Ich fühle mich glücklich. So glücklich, wie wenn mich Afyon küsst. Ich muss ihm das sobald wie möglich erzählen.
»Theater?«
Er kann meinen Enthusiasmus bei unserem abendlichen Treffen kaum nachvollziehen.
»Was fühlst du, wenn du Tore schießt?« Ich gebe meine Begeisterung nicht auf.
»Bin der King, was sonst?« Er schaut mich irritiert an.
»Genau so habe ich mich auch gefühlt beim Applaus!«
»Jonas, Jonas!« sein Blick macht sich über mich lustig, »in welcher Welt lebst du denn?«
»Verstehst du das nicht?«
»Fußball ist Fußball!« sagt er selbstsicher, so als ob jemand ihm erzählen will, dass die Erde eine Scheibe sei, »und Theater«, er nuschelt und schüttelt den Kopf, als hätte ich einen Vogel.
Ich stampfe vor mich hin, er nähert sich mir, ich koche vor Wut, die Wörter bleiben in mir hängen, seine heißen Lippen glühen auf meinen, seine Leidenschaft zwingt mich auf das Bett, seine Atemzüge gleiten über meine Haut wie Südwinde über das Mittelmeer, ich kann nicht widerstehen.
»Afyon«, die Nervenzellen fangen wieder die Gegenwart auf, meine Gedanken kehren zurück, drängen darauf sich zu artikulieren, »du bestimmst immer alles«, sie streiten sich tief in mir drin, welcher den größten Schritt nach draußen wagen wird, »und wenn ich mit dir reden will«, sie kämpfen um ihre Rechte, »wird es noch schlimmer«. Meine Gedanken fügen sich zusammen: »Warum ist das so?«
»Ich kann nicht so reden wie du.«
»Wieso ist das so?«
»Ich weiß nicht.« Er sieht leidend aus. »Bei uns ist das anders!«
»Mit deinen Freunden redest du doch auch.«
»Über Fußball und Zocken!« sagt er, und ich bilde mir ein, ein großer Ball rollt auf mich zu. »Nicht über solche Dinge … über die du reden willst.« Er hat den Ball mit Wucht getroffen. Ich sehe die Flugbahn vor mir. Tor!
Mein Afyon. Du hast noch nie so viele Sätze zu mir gesagt wie in diesem Moment. Du bist nett, du bist liebenswert, du bist herzlich, genau wie alle Jungs in der Schule. Aber ich kann mit dir nicht so reden, wie ich es mit Danny tue, mit Fabian, oder wie mit den Leuten in der Theatergruppe. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
»Träumst du?« sagt er und zwingt mich, meine Augen zu öffnen.
Es ist eine andere Welt, in die ich blicke.
Trotzdem ist der Abend sehr schön, wie immer, wenn ich ihn berühren darf, ihn küssen, in seiner Nähe bin. Und wie immer fällt mir der Abschied schwer.
Wie lange dieser Abschied sein würde, wusste ich nicht. Es sind einige lang gedehnte Tage, die mich ganz traurig machen, mich deprimieren. Immer, wenn ich nicht in seiner Nähe bin, vermisse ich ihn. Doch nichts von ihm, nirgends. Er beantwortet keine Nachrichten. In der Schule wurde er auch nicht gesehen, nicht einmal beim Fußballtraining war er. Tagelang ist er wie vom Erdboden verschluckt.
Ein blaues Auge! Es ist das einzige, was ich gerade wahrnehme – ein blaues Auge, als er vor meiner Haustür steht.
»Was ist passiert?«
Er humpelt merkwürdig, geht geradeaus in mein Zimmer, zieht seine Jacke aus, ich erkenne Schrammen an anderen Körperteilen, ich nehme ihn reflexhaft in die Arme, doch er schubst mich weg.
»Wegen dir habe ich das alles! Du Schwuchtel! Ich bin nicht so wie du! Ich kann das nicht!« schreit er mich an, und
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