Plattenbaugefühle: Jugendroman
bevor ich verstehen kann, schlägt er mich ins Gesicht.
Ich falle auf das Bett, die Nase blutet, ich fühle mich, als hätte mich eine Kanonenkugel getroffen, er steht wütend vor mir, mein Held in einem 3D-Actionfilm. Er erkennt seine Tat – auch Protagonisten sind Menschen mit Schwächen – greift nach Taschentüchern, setzt sich neben mich, möchte mich pflegen, »verdammt!« nuschelt er, etwas auf Deutsch, etwas auf Türkisch, unbeholfen auf jeden Fall.
»Du kannst mich doch nicht schlagen!« schreie ich ihn wütend an und schiebe ihn von mir weg.
Das Blut tropft auf mein T-Shirt, und in Afyons dunklen Augen sehe ich Tränen.
»Du kannst mich doch nicht schlagen, Afyon!« wiederhole ich meine Wut, diesmal nicht ganz so laut – das Kind schluchzt, das Kind bricht mir das Herz, ich werde selbst zum Kind und stimme in das Weinen ein.
»Wer hat dir das angetan?« frage ich ihn verstört, während meine Hand zögerlich an seinen Schrammen entlangfährt.
Er weint. Der Kopf gebeugt. Das Gesicht versteckt in seinen Händen.
»Mein Vater«, nuschelt er vor sich hin.
»Dein Vater?« Ich wische mir mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht.
»Warum? Was ist passiert?«
Ich ertrage es nicht, ihn leiden zu sehen. Ich beuge mich über ihn, ziehe ihn auf das Bett, er schluchzt, versteckt sich in meinen Armen. Ich streichele ihn, seine Körperwärme durchflutet mein Herz, meine Lippen suchen seine Haut, ich küsse seine Stirn, die geschlossenen Augen, die knochigen Wangen, die atemberaubenden Lippen. Langsam öffnet sich der Mund. Mein Puls rast, seine Brust erholt sich vom Weinen, meine Nase reibt sich an seiner, der Schmerz reißt mich in Stücke, sein Schmerz ist mir wichtiger als meiner. Er braucht meine Aufmerksamkeit, er sucht meine Zuwendung, die Liebe, das Feuer, das Licht. Mein Held glüht vor Leidenschaft in meinen Armen.
»In Kranichstein kommt alles raus«, flüstert er Minuten später.
Ich möchte so viele Fragen stellen, ich brauche so viele Antworten für mich, doch eine Stimme in mir sagt: Es reicht, wenn du ihn einfach streichelst.
»Mein Vater …«, er sucht die richtigen Worte, »jemand hat ihm erzählt, wo ich abends hingehe« – wer kann ›jemand‹ sein? – »ich sagte, dass ich eine Freundin habe, in K6« – oh mein Gott! – »er hat es nicht geglaubt« – warum nicht? – »er glaubt den anderen Leuten, dem Gerede« – warum? – »er hat mich geschlagen« – wieso? – »wir sind Türken« – wir sind doch in Deutschland – »bestimmte Dinge gibt es nicht, bei uns« – ich könnte ausrasten – »Tradition eben, verdammte Tradition« – ich bin sprachlos – »das ist nicht so einfach« – das ist nicht so einfach, wiederhole ich in Gedanken seinen letzten Satz, ich weine neben ihm.
»… und hör auf dich wegen mir zu schlagen«, fügt er ganz ernst hinzu, als er sich verabschiedet.
Ich schaue ihn verständnislos an.
»Ismet!« sagt er und mir kommt das Bild im Umkleideraum vor Augen.
»Ich habe mich nicht wegen dir …«
»Hör auf!« unterbricht er mich laut, »du machst es nur noch schlimmer!« sagt er und geht.
Wie soll das weitergehen? In den Büchern, die ich lese, ist Verliebtsein schön, Schmetterlinge im Bauch haben, zwei Jungs, die sich gesucht und gefunden haben, die über alles reden können und ähnlich fühlen. Doch das ist bei Afyon und mir nicht so.
Eines Tages schaffe ich es, ihn dazu zu überreden, mit mir den Unterricht zu schwänzen. Ich möchte ihm unbedingt diese Bank zeigen, auf der ich mit Danny saß. Ich habe die romantische Vorstellung, dass es unsere Bank werden könnte, auf der wir sitzen und miteinander reden können – zumindest versuchen zu reden, Hand in Hand. Auch wenn Afyon nicht so viele Worte finden kann, wir werden uns aneinander schmiegen und vielleicht miteinander träumen.
»Eine Bank?« er mault mich an, als hätte ich einen großen Fehler begangen, »du bringst mich zu einer blöden Bank? Mitten in Kranichstein? Geht´s noch? Hier wo jeder einen sehen kann?«
Wütend zieht er ab.
Erstaunt setze ich mich auf die Bank. Allein.
Ein leichter kühler Wind weht meine Haare ins Gesicht. Im Himmel ziehen dunkle Wolken heran. Ich habe Augen für die Natur. Ich habe Augen, die träumen können. Ich habe Augen, die mit Tränen gefüllt sind. Ich habe ihn lieb. Ich sah ihn in meinen Träumen, bevor ich ihn kennenlernte. Das bedeutet doch etwas!
Andererseits ist es furchtbar anstrengend, nach seinen Regeln spielen zu
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