Plattenbaugefühle: Jugendroman
denke, dass ich in diesem Moment ›Romeo und Julia in Kranichstein‹ leben, nur dass meine Julia eben ein Julio ist.
Wieder taucht Afyon an diesem Abend nicht auf. In der Schule, erfahre ich, war er auch nicht. Auch nicht am nächsten Tag.
»Ich befürchte das Schlimmste!« sagt ein betrübter Aris.
Ich spüre seine Angst.
»Die haben mich rausgeschmissen … diese Spinner!«
»Wer?«
»Es hat nur gefehlt, dass sie mich treten und mit Steinen beschmeißen!«
Eine seltene Wut breitet sich in der Stimme des sonst so coolen Sozialarbeiters aus. Ich beobachte seine hilflosen Gesten, als er »echt krass!« flüstert, mit dem Kopf hin und her wackelt, »selten so viel Gegenwehr erlebt« ruft er verzweifelt.
»Was ist…passiert?«
»Sie haben feindselig auf mich reagiert!«
»Wer denn?« Ich sehe ihn immer noch irritiert an.
»Seine Eltern! Diese …«
»Du warst bei Afyons Eltern?« Mein Herz springt auf.
»Ich wollte doch nur mit ihnen reden.«
»Wann?«
Aris ist in seine Gedanken vertieft.
»Hast du ihn gesehen?«
»Ich müsste es melden!«
»In Gottes Namen! Aris!« schreie ich durch sein Büro und ergreife seinen Arm. Sein Blick kehrt zu mir zurück. Ich platze vor Neugier, brauche Fakten, »was ist passiert?« flehe ich ihn an, mich endlich einzuweihen.
»Die sperren ihn ein!« sagt er bestürzt.
»Was?« Tausende Stiche durchbohren mein Gehirn, ich ertrage den Schmerz nicht, ich kann die Ungewissheit nicht mehr aushalten. »Wieso?« fragt mich eine Stimme in mir drin und plötzlich merke ich, dass ich es laut ausgesprochen habe.
»Weil sie Angst haben! … diese, diese, blöden, kleinen Menschen!« schreit er mich an.
Was soll ich nur machen? Wie kann ich ihm nur helfen?
»Kannst du ihn da nicht rausholen?« traue ich mich zu fragen, ohne eine Hoffnung, dass eine Lösung in Sicht ist. Die Stille im Raum vergrößert meine Ausweglosigkeit.
»Eine Inobhutnahme wäre möglich!« sagt Aris müde, »wenn es Afyon recht wäre. Aber, er möchte es nicht.« – was redet er vor sich hin? – »Ich hatte ihn vor einiger Zeit darauf angesprochen.«
»Was ist eine Inobhutnahme?« frage ich irritiert.
»Er könnte sich bei der betreffenden Stelle des Jugendamts melden und darum bitten, aus der Familie genommen zu werden.« Aris´ Blick glaubt nicht an diese Version. »Ich könnte das allerdings auch veranlassen«, fügt er nachdenklich dazu.
»Wieso tust du es nicht?« schreie ich triumphierend.
»Nun ja, das ist mit bestimmten Folgen verbunden. Er würde in eine vorläufige Unterbringung kommen und man müsste seinen Aufenthaltsort geheim halten.«
»Geheim?«
»Im Grunde genommen auch vor dir, er dürfte nicht auffindbar sein.«
»Aber wieso soll ich denn nichts davon erfahren dürfen?« Ich bin empört.
»Weil wir dich damit in Gefahr bringen würden!»
Ich bin doch nicht derjenige, der eingesperrt wird – was erzählt er mir?
»Afyon hat Angst, dass du so oder so von seinen Eltern massakriert werden würdest, wenn er plötzlich nicht mehr da ist. Weil sie mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass du etwas damit zu tun hast.«
»Was?« Ich schaue ihn verwirrt an. »Hast du mit Afyon geredet?«
»Natürlich, das ist mein Job!«
»Wann denn?«
»Kurz, nachdem ihr euch kennengelernt habt.«
»Afyon hat über mich geredet?« So eine Szene kriege ich nicht in meinen Kopf. »Afyon hat Angst, dass mir was passieren könnte?«
»Jonas!« Aris´ Ton unterbricht meinen Gedankenfluss, »Afyon hat lange über seine Familie und seine Gefühle für dich geredet. Glaub mir. Er macht sich Sorgen um dich!«
Gefühle? Reden? Afyon? Er hat doch nur über Fussball reden können. Er konnte gar nicht reden. Mit mir nicht, mit mir nicht.
»Er ist verliebt in dich … auf seine eigene Art«
Aris´ weiche Stimme stürzt mich in ein tiefes Loch. Lippen, die mich küssen, Lippen die schweigen, Lippen die nuscheln – Bilder, die mich umbringen – Lippen die ›Killing me softly‹ singen in mir, Afyon, der eingesperrt in seinem Zimmer liegt – hat er ein eigenes Zimmer?
»In ähnlichen Situationen habe ich andere Jugendliche herausgeholt.« Der Sozialarbeiter reißt mich wieder in die Realität. »Naja, es war zwei Mal. Und beide Male war es furchtbar. Aber hier scheint es mir am kompliziertesten zu sein – so wie ich die Verhältnisse einschätze. Ich habe das Gefühl, dass ich mich heraushalten muss. Ich meine …«
»Was? Was meinst du?« frage ich ungeduldig.
»Naja, ich meine, dass ich als
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