Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
eskalierte, kam das Soferl. »Fährt mich jetzt einer?«, fragte sie. Inzwischen trug sie eine enge Jeans, Stulpen, Stiefel und einen Norwegerpullover, der ebenfalls sehr eng saß. Sie sah älter aus, als sie war, und gleichzeitig eben doch wie ein kleines Mädchen. Bei Reindls würde man die nächsten Jahre sicher viel Spaß haben, was Schlange stehende Verehrer betraf.
»Ich fahr«, sagte Elli und sprang fast auf.
Irmi erhob sich und verabschiedete sich ebenfalls. »Kathi, wir reden dann morgen. Wenn du etwas Spektakuläres in Erfahrung bringst, ruf an.«
Kathi sah von ihr zu ihrer Mutter. »Ihr tickt doch alle nicht ganz richtig«, sagte sie dann und ging hinaus.
Irmi wünschte dem Soferl noch viel Spaß und war heilfroh, entfliehen zu können. Aber wovor floh sie denn eigentlich? Letztlich hatte sie immer noch keine Ahnung, warum sie Elli Reindl diese Konfrontation mit der Vergangenheit hatte zumuten müssen. Worum war es Regina von Braun denn tatsächlich gegangen?
Irmi fuhr im Büro vorbei und recherchierte ein wenig über die Lisl-Bar . Dabei stellte sie fest, dass die Namensgeberin des Lokals tatsächlich in Garmisch lebte. Irmi notierte sich die Adresse und stand wenig später vor der Haustür von Elisabeth Nigg. Eine sehr gepflegte Dame öffnete ihr. Irmi stellte sich vor, doch Frau Nigg schien es nicht weiter merkwürdig zu finden, dass die Polizei kam. Sie stellte Wein auf den Tisch und wartete.
»Ich würde mir gerne ein Bild vom Außerfern machen«, erklärte Irmi, »vom Außerfern zu der Zeit, als Sie die Lisl-Bar hatten. Sie waren ziemlich jung damals.«
»Ich war vierundzwanzig, ich wurde verfrüht geschäftsfähig erklärt.«
»Sie gelten als Legende«, begann Irmi vorsichtig.
»Ach was. Die Bar war einfach ungewöhnlich. Es gab ja rundherum nichts. Weder in Füssen noch in Pfronten oder in Reutte. Wir hatten bis drei Uhr offen, wir hatten Livebands ab neun Uhr, das war legendär.«
»Aber die Herren kamen doch auch Ihretwegen?«
»Ach Gott, man muss in der Gastronomie klare Grenzen ziehen. Ich habe das immer getan. Ich habe Cocktails hinter der Bar gemixt, wenn die das Theater wollten. Meine Mutti war in Sichtweite. Sie hat die Eintrittskarten für fünf Schilling verkauft. Meine Familie lässt sich ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Wir sind alteingesessen. Da war nichts mit Sodom und Gomorra. Skischuhe in der Bar waren verboten, dann liefen die Gäste eben strumpfsockig rum. Ich bin nie mit einem Gast ausgegangen, das war einfach tabu.«
Gerade das dürfte den Mythos befeuert haben, dachte Irmi. »Distanz ist wichtig. Wir hatten auch sehr honorige Leute da, die ihre Whiskey- und Ginflaschen da gelassen haben. Da waren Thurn und Taxis dabei, der spätere Skinationaltrainer, die Führungsetage bei den Metallwerken. Aber immer mit Niveau, es waren auch so Edelbaraber da, die am Stollen gearbeitet haben, die hab ich eigenhändig rausgeworfen.«
»Das klingt nach einer eigenen Welt und einer sehr ungewöhnlichen Frauenkarriere für damals«, meinte Irmi.
»Ja, gewiss, aber ich habe auch Mädchen an die Theke gebeten, und es war klar, dass man die nicht anbaggern durfte. Als Frau konnte man damals nicht allein weggehen, nicht ohne männliche Begleitung. Bei mir ging das.«
»Und Sie haben das immer durchgehalten mit dem Abstand?«
Sie lächelte wieder. »Ich hab sie doch gesehen, diese Typen, gerade mal drei Wochen verheiratet, die Frau geschwängert – und in der Bar dann die Holländerinnen abgeschleppt. Der Mann ist nicht die Krone der Schöpfung, Frau Mangold.«
Wie wahr, dachte Irmi. »Kannten Sie damals den Frauenarzt Dr. Wallner?«
Frau Nigg zog die Brauen ein wenig hoch. »Ich kann nichts Negatives über ihn sagen. Immer korrekt.« Es war klar, dass sie auch nicht vorhatte, mehr zu sagen.
Ja, auf der einen Seite die alten Bürgersfamilien, die Mädchen, die in der Fünfzigerjahren eine Mittelschule besuchen durften, die im Internat in der Nähe von Imst gewesen waren, wo Klosterschwestern sie schwimmen gelehrt hatten, die Mädchen in gestrickten Badeanzügen. Und auf der anderen Seite die einfachen Bauersfrauen aus dem Lechtal. Welten hatten dazwischen gelegen, aber auch das nutzte Irmi wenig. Immerhin hatte sie eine interessante Frau kennengelernt, und das hatte sie von Elli Reindls Geschichte abgelenkt. Das Leben in Reutte war auch heiter gewesen, wenn man den richtigen Kreisen angehört hatte. Aber war das nicht immer so?
6
Oktober 1936
Ich habe lang nichts mehr
Weitere Kostenlose Bücher