Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
sie: »Was ist passiert? Was hat Elisabeth Storf mit diesem Arzt zu tun?« Sie vermied es, den Namen der von Brauns zu nennen, zumal ihr selbst die Zusammenhänge nicht ganz klar waren.
»Warum jetzt, Frau Mangold? Warum jetzt, nach so vielen Jahren?«
Irmi blieb die Antwort schuldig, wartete und ließ Elli Reindl reden. Von einer Zeit, als sie gerade mal zwanzig gewesen und mit Ferdinand Reindl liiert gewesen war, einem jungen Heißsporn, der es im Metallwerk Plansee zu etwas bringen wollte. Die junge Elisabeth hatte eigentlich vor, Erzieherin zu werden, schwanger wollte sie nicht werden. Ihr streng katholischer Frauenarzt verbot zwar die Pille, doch Elisabeth hatte eine Freundin, die sich das Medikament nicht ganz legal in Füssen besorgte und ihr ein paar Packungen mitbrachte.
Das ging nicht lange gut, denn eines Tages entdeckte Ferdinand die Packung und verprügelte seine Freundin, die wenig später mit zweiundzwanzig Jahren schwanger wurde. Elisabeth stammte aus einfachen Verhältnissen und war in Rieden aufgewachsen. Dort hatte sie neben dem Gasthof Kreuz gewohnt, wo sie als Kind dem Vater das Bier geholt hatte. Sie hatte von Anfang an Probleme mit ihrer Schwangerschaft gehabt, die Mutter meinte nur, sie solle sich nicht so anstellen. Ihr Freund war sowieso nie da, sondern hockte mit Kumpels in der Lisl-Bar . Mehrfach war Elisabeth in aller Frühe von Rieden mit dem Radl aufgebrochen, den Lech entlang, oft auch bei Regen und Nebel, bis zur Praxis, wo sie zusammen mit anderen Frauen in eisiger Kälte vor dem Haus hatte warten müssen. Da waren auch Frauen von weit hinten im Lechtal dabei gewesen, die in bittersten Wintern hatten ausharren müssen, Frauen, die schon seit vier Uhr morgens unterwegs waren. Geöffnet aber wurde erst punktgenau zur Sprechstunde. Oder noch später.
Elli Reindl hatte sich immer wieder einmal unterbrochen, so hatte Irmi sie noch nie erlebt, so verletzlich.
»Irgendwann hatte ich wieder einmal extrem starke Bauchschmerzen und bin zur Praxis geradelt. Dort bin ich noch auf der Straße in einer Blutlache zusammengebrochen. Im Krankenhaus in Reutte bin ich aufgewacht. Das Kind war weg, im siebten Monat. Es war tot geboren. Es gibt ein kleines Grab in Weißenbach. Eigentlich wollte mein Freund es gar nicht bestatten, weil es doch gar noch nicht fertig gewesen sei. Er wollte es entsorgen wie bei der Tierkörperverwertung.«
Irmi hatte den Blick nicht mehr vom Tisch genommen, sie starrte in ihre Tasse und verfluchte den Tag.
Der Abgang hatte Elli Reindl damals schwer zugesetzt, sie musste fast einen Monat im Spital liegen. Es hieß, sie könne keine Kinder mehr bekommen. Für ihren Freund war sie damit unwert, was ihn aber nicht davon abhielt, wenn er betrunken aus der Lisl-Bar kam, sie zu demütigen und immer wieder zu benutzen. »Für was anderes kann man dich ja nicht gebrauchen, bloß als Turngerät«, zitierte ihn Elli Reindl. Dabei klang ihre Stimme, als spräche sie aus einer Gruft heraus. Dass sie mit dreißig Jahren dann doch noch schwanger wurde, war eigentlich ein Wunder. Dass Kathi dann 1981 gesund zur Welt kam, erst recht. Dass sie Ferdinand heiratete, war eine letzte Verzweiflungstat, die dem Druck beider Elternpaare geschuldet war. Sie ertrug ihren Mann noch zehn Jahre, bis er besoffen mit einem Motorrad in den Lech gerauscht war.
Elli Reindl sprang plötzlich auf, riss sich die dicken selbst gestrickten Wollsocken vom rechten Fuß und rief: »Da, Frau Mangold, das sind die sichtbaren Male.« Sie hatte drei erfrorene Zehen, nur noch Stümpfe waren übrig. »Das war der Morgen des Abgangs. Ein Kind und drei Zehen verloren. Entscheiden Sie, was schwerer wiegt.«
Selten hatte Irmi solch eine Hilflosigkeit verspürt. Sie war wie gelähmt, sie konnte einfach nichts mehr tun, nichts sagen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war. Elli Reindl ging hinaus, und Irmi hörte ein Schnäuzen. Auch Irmi griff nach einem Taschentuch, es war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Elli Reindl schenkte zwei neue Schnapsgläser ein, diesmal randvoll. Sie tranken auf ex.
Nun erst sah Irmi hoch.
»Aber warum? Warum konnten Männer wie dein Arzt so ein Terrorregime ausüben?«
Elli Reindl hatte ihr nie das Du angeboten, aber es war Irmi in dieser Situation einfach nicht mehr möglich, beim Sie zu bleiben.
Kathis Mutter sah Irmi zum ersten Mal wieder direkt in die Augen. »Du kennst die Antwort. Es war eine repressive Gesellschaft. Die
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