Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
Lamsenjoch- und Pleisenspitzoriginale kannte er sicher, die kauften doch alle bei ihm ein. Er kannte Höhlen und Kare. Wenn der weg sein wollte, war der weg!
»Wir fahren jetzt ins Waldgut«, sagte Irmi, ohne recht zu wissen, was das bringen sollte. Und nach einem gewilderten Rentier stand ihr auch nicht gerade der Sinn. Sie hatte ein Bild vom Karwendelschrat dabei und das von Wallner. Die würde sie Veit Bartholomä vorlegen, vielleicht kannte der einen der Herren.
Als sie vorfuhren, kam ihnen Bartholomä schon entgegen. Er sah grimmig aus. »Ihre Leute sind schon da. Das arme Tier. Dieses verdammte Wildererpack!«
Irmi und Andrea folgten ihm am Elchgehege vorbei auf einen Waldpfad. Sie folgten einem hohen Zaun bis zu einem Überstieg aus Holzbohlen. Veit Bartholomä war für sein Alter sehr behände, ja, geschmeidig. Sie überquerten eine Wiese mit tiefen Trittmarken, am Waldrand lag noch dreckiger Altschnee. Und dort war der Kadaver. Der Körper eines Rentiers. Ein kopfloser Körper. Den Schädel hatte jemand einfach abgetrennt. Irmi war seit ihrem letzten Fall wahrscheinlich sensibilisierter und weit empfindlicher, was Vergehen gegen Tiere anging. Sie hatte zu viel gesehen. Sie alle hatten viel zu viel gesehen.
Der Hase kam von irgendwoher. Hatte die übliche Leidensbittermiene aufgesetzt und konnte ihr wenig Hoffnung machen, dass er hier irgendetwas Brauchbares an Spuren auftun würde. Er hatte allerdings eine Wagenspur entdeckt, allerdings kein sonderlich gutes Profil. Und der schnelle Hase konnte auch sagen, dass es kein Auto vom Waldgut gewesen war. Er hatte auch Fußspuren gesichert, aber es war eine Sisyphusarbeit, die ganzen Spuren zu sortieren und zuzuordnen. Schließlich liefen hier jede Menge Leute herum: Veit, Robbie, Helga, Forstarbeiter, Gäste, der Tierarzt …
Das Projektil steckte noch, und der Hase war »überglücklich«, nun einen kopflosen Kadaver mitnehmen zu dürfen. Der im Übrigen auch nicht mehr ganz taufrisch war. Der Hase mutmaßte, dass das Rentier ungefähr zur gleichen Zeit wie Regina sein Leben ausgehaucht hatte.
Irmi konnte hier nichts tun, das machte sie noch wütender. Sie steckte fest, wie das Projektil in dem Tier.
»Kommen Sie mit zu Theobald, genannt Theo?«, fragte Bartholomä in die Stille hinein.
»Wer ist Theobald?«
»Theobald ist eigentlich eine Theobaldine.«
Veit Bartholomä erzählte von der zahmen Eule, die Regina besessen hatte. Theobald, der Regina und Veit jahrelang mit einer falschen Identität veräppelt hatte. Beide dachten wegen seiner Größe und des männertypischen Greiffußes immer, es wäre ein Männchen. Bis Theobald drei Eier gelegt hatte – und das können Männer wirklich nicht.
»Regina hat Theo öfter mal mit in Schulen und Kindergärten genommen. Sie sagte immer, dass es doch die Kinder seien, auf die es später ankomme und die die Verantwortung für unsere Erde übernehmen müssten. Was nutzt mir alle Theorie, jedes ausgestopfte Präparat, wenn ich so ein Tier live erleben kann?«
Irmi nickte.
»Regina hat sicher im Kleinen Großes geleistet. Als dieser Harry-Potter-Wahnsinn ausgebrochen ist, wollten junge Fans auch gern eine Schneeeule. Regina konnte den Kindern erklären, dass Eulen Wildtiere sind, die sich in einer Voliere nie wohlfühlen würden. In Deutschland braucht es gottlob eine Halteerlaubnis für Eulen. Sie sind besonders geschützte Tierarten nach dem Washingtoner Artenschutzabkommen. Regina gehörte zu den wenigen Menschen, die Eulen halten dürfen. Und nun ist Theo kreuzunglücklich. Frisst schlecht. Regina war seine Bezugsperson.«
Nur Lohengrin schien sein Fähnchen nach dem Wind zu hängen. Er sprang Irmi an und schmachtete aus seinen Dackelaugen.
»Opportunist«, zischte Veit Bartholomä.
Sie waren auf der Rückseite des Haupthauses angekommen. Dort gab es einen Anbau mit einer riesigen begehbaren Voliere. Die Eule saß auf einer Stange und sah auf Robbie hinunter. Der reichte ihr Hackfleisch. Sie zögerte. Zögerte lange und nahm dann doch etwas. Irmi, Andrea und Veit Bartholomä wagten kaum zu atmen. Noch nie hatte Irmi eine Eule von so Nahem gesehen. Dieser große runde Kopf mit dem Hakenschnabel, diese riesigen Augen. Irmi wusste, dass Eulen unbewegliche Augen hatten, dafür aber den Kopf bis zu zweihundertsiebzig Grad drehen konnten. Und dass sie sehr gut hörten. Hier an der Voliere war auch ein Schild angebracht:
Wusstest du, dass andere Vogelarten kleine, runde Ohröffnungen, Eulen aber schlitzförmige
Weitere Kostenlose Bücher