im zweiten Anlauf ein spät berufener Vater geworden. Thomas Patrick Leonhard Wallner, der Kronprinz, war wohl weniger im Sinne des Herrn Professor gediehen. Keine Matura geschafft, die Lehre abgebrochen, und auch im Biathlon-Nationalkader ordentlich, aber nie herausragend in seinen Platzierungen gewesen. Offenbar gab es keinen Kontakt mehr zwischen Vater und Sohn. Die Exgattin lebte auf Mallorca als Boutiquenbesitzerin. Wahrscheinlich mit dem Geld des Chirurgieprofessors.
Irmi überlegte. Reutte ehrte also den großen Sohn der Stadt, und wenig später würde ein Buch in den Buchhandlungen stehen, wo es unter anderem um den Sohn des großen Professors ging. Wäre das so schlimm, dass man deswegen mordete? Zumal das Buch die Klarnamen doch aussparte. Und wer würde deshalb morden? Der Herr Professor? Tommy war das Ansehen seines Vaters wahrscheinlich schnurzegal. Und missratene Kinder hatten doch viele! Wenn die alle morden würden!
Sie erinnerte sich an Ellis Worte: »Diese Regina schien mir gefangen zu sein.« Aber doch weniger in ihrem Jagdbuch als in ihrer eigenen Geschichte. Reginas Recherchen über ihre Familie, ihre Anklagen gegen einen weiteren Spross der Familie Wallner – wenn daraus wirklich ein Buch würde, könnte das bedeutend mehr Staub aufwirbeln. Man stelle sich vor: Der Herr Professor bekommt seine Straße und eine Büste gleich dazu, und im Buch ist zu lesen, dass sein Bruder sich nicht nur frauenverachtend verhalten, sondern sich auch wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht hat. Es hatte sogar eine Frau sterben müssen. Das würde für Aufsehen sorgen, auch heute noch.
Irmi suchte die Akte heraus, die Andrea zusammengestellt hatte. Dabei stieß sie auf die Korrespondenz mit der Lektorin, mit der sie ja bereits gesprochen hatte, und wählte die Nummer, aber Anita Schmidt war nicht mehr da.
Dann druckte sie sich das Tagebuch noch einmal aus. Nachdem er es ja für historisch und sozial so interessant erachtet hatte, würde sie zu Hause weiter darin lesen.
10
Februar 1937
Das Leben hier war immer noch so verwirrend für mich. Ich fragte mich, wie es wohl der Mutter ging. Ob sie wohl zum Bader gegangen war? Was wohl Jakob gerade machte? Es ging ja bald schon aufs Frühjahr, und ins Schwabenland würde auch Jakob nicht mehr gehen. Ich traute mich nicht, meine Retterin zu fragen, ob ich eine Depesche schicken könne. Und doch erschienen sie mir so oft im Traume. Die Mutter. Der Jakob. Und Johanna. Und der Herr. Oft erwachte ich schreiend. Angelika saß dann bei mir, gab mir Likör zu trinken und strich über meine Stirn. Manchmal wiegte sie mich wie ein kleines Kind. So etwas hatte noch nie jemand getan.
Ich saß oft dabei, wenn in Angelikas Salon all diese Menschen sich trafen und über das sprachen, was ich schon im Schwabenland gehört hatte. Dass der Herr Hitler Deutschösterreich zurück zum großen deutschen Mutterlande holen wolle. Angelika sprach immer davon, dass ein Buch mit dem Titel ›Mein Kampf‹ verbrannt gehöre. Ich hörte mit Staunen und auch mit Furcht davon, dass die Deutschen am Tode des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß beteiligt waren.
Wir fuhren mit einem Zug ganz steil hinauf in die Seegrube und das Hafelekar. Und wir trafen einen Herrn namens Franz Baumann, der diese Bahnstationen gebaut hatte. Sie sahen merkwürdig aus. Als er mich fragte, was ich von Kunst dächte, konnte ich nur stammeln, dass ich Zeno Diemers Bild gesehen hätte. »Monumentaler Schwulst, liebes Kind«, meinte Angelika lachend. »Franz reißt die Architektur aus der Folklore.« Ich war verwirrt, auch beschämt und gleichzeitig berauscht vom Licht und von der Luft.
Unten im Tal gingen wir ins Café Central. Welch eine Pracht, diese Kronleuchter, die Kaffeehausober! Ich trank die erste Wiener Melange, und Angelika lachte mich aus, weil mir das Café besser gefiel als die Bauten ihres Freundes Baumann.
Um sieben Uhr am nächsten Morgen saß Irmi wieder im Büro und sortierte Andreas Akte. Der Schlafmangel machte sich langsam bemerkbar. Andrea hatte wirklich alles und jedes ausgedruckt, bestimmt würde das bald einmal einer merken und als Rationalisierungsvorschlag diese exzessive Papierverschwendung unterbinden.
Irmi suchte sich wieder die Telefonnummer heraus, bei der sie es gestern schon vergeblich probiert hatte. Dabei stieß sie auf die Mailadresse der Lektorin Anita Schmidt,
[email protected]. Beim Herumwühlen rutschten ein paar ausgedruckte E-Mails vom Schreibtisch, und