Ploetzlich blond
Haaren verdeckt wurde. Die Stelle war empfindlich, tat aber nicht weh. Gott, wie entsetzlich. Was war passiert? Was war Nikki Schreckliches zugestoßen und hatte eine erhabene, etwa einen Zentimeter breite und fünfzehn Zentimeter lange Narbe zurückgelassen?
Im Grunde genommen wusste ich es. Ich hatte zusammen mit Christopher im Discovery Channel genug Medizinreportagen über die diversesten Operationen gesehen, um zu wissen, dass irgendjemand einen Schnitt quer über Nikkis Hinterkopf ausgeführt, die Haut mitsamt den Haaren zurückgezogen und den glänzend weißen Schädelknochen enthüllt hatte.
Aber warum? Wozu sollte jemand so was machen? Es sei denn …
Plötzlich stieg eine Erinnerung in mir auf, die mir das Blut in den Adern zu Eis gefrieren ließ: ein regnerischer Nachmittag bei Christopher zu Hause, eine Tüte Nacho-Chips, die wir bei Gristedes gekauft und am »Commander« vorbeigeschmuggelt hatten, und eine Medizinreportage mit dem Titel: »Gehirntransplantation: Die Zukunft hat begonnen.«
Nein. Nein, das war unmöglich .
Was genau hatten sie in dem Film gesagt? Ich wusste noch, dass es mir wie Science Fiction vorgekommen war.
Dann fiel es mir wieder ein: Irgendwelche europäischen Wissenschaftler hatten bewiesen, dass man das Gehirn eines Tieres in den Schädel eines anderen Tieres verpflanzen und es mehrere Tage am Leben erhalten könne.
» Nicht schlecht «, hatte Christophers Kommentar gelautet. »Da würde ich mich sofort freiwillig zur Verfügung stellen.«
Die Autoren des Films hatten gesagt, es seien letztlich nur ethische Bedenken, die die Wissenschaftler davon abhielten, die Experimente auf Menschen auszuweiten. Bioethiker hielten es für moralisch unvertretbar, den Körper eines Hirntoten als Hülle für das lebende Gehirn eines anderen Menschen zu benutzen.
»Unmoralisch – so ein Quatsch!«, hatte Christopher dazu bemerkt. »Von mir aus können die mein Gehirn sofort in den Körper vom Hulk verpflanzen.«
Christopher war sehr enttäuscht gewesen, als der Sprecher darüber informiert hatte, dass Ganzkörpertransplantationen – wie sie korrekterweise hießen – beim Menschen noch in ferner Zukunft lägen. Allerdings habe man vor einer Generation auch das Klonen noch für unmöglich gehalten. Deshalb sei davon auszugehen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Ganzkörpertransplantationen so normal werden würden wie heutzutage Herztransplantationen.
War das etwa die Erklärung? War ich die weltweit erste Empfängerin eines Ganzkörpertransplantats? Hatte der Flachbild schirm, der auf mich gefallen war, meinen Körper zerschmettert, mein Gehirn aber unversehrt gelassen? Hatte Dr. Holcombe mir anschließend das Gehirn entnommen und es in den nächsten hirntoten Körper verpflanzt, der gerade verfügbar war – den von Nikki Howards, die zufälligerweise in dem Moment, in dem der Fernseher auf mich gefallen war, irgendeinen tödlichen Zusammenbruch gehabt hatte?
Nein. Nein, die Vorstellung war absurd. Erstens war es technisch nicht möglich. In dem Film hieß es, dass die Wissenschaft noch Jahre davon entfernt sei, diese Art von Operationen an Menschen durchzuführen.
Und zweitens: Wieso sollte jemand diese Art von Transplantation durchführen, um ausgerechnet mich zu retten?
Andererseits begann ich plötzlich einiges von dem zu verstehen, was mich vorher verwirrt hatte. Zum Beispiel Fridas merkwürdige Frage, ob ich es wirklich sei. Natürlich hatte sie Zweifel an meiner Identität gehabt, als sie jemanden im Bett liegen sah, der äußerlich Nikki Howard war und nicht die Schwester, die sie kannte und (hoffe ich zumindest) liebte.
Oder dass Dr. Holcombe mir verboten hatte, mich zu bewegen und im Bett aufzusetzen. Natürlich war es für jemanden, der gerade eine gehirnchirurgische Operation hinter sich hatte, besser, ruhig liegen zu bleiben.
Oder seine Bemerkung, dass ich viel größere Forschritte machte, als sie es zu hoffen gewagt hätten. Verständlicherweise war er begeistert darüber, dass die Patientin, deren Gehirn er in den Körper eines anderen Menschen eingepflanzt hatte, so kurz nach dem Eingriff bereits klare Sätze sprechen konnte und alle motorischen Fähigkeiten wiedererlangt hatte (wobei die Operation ja auch schon einen Monat her war).
Ich dachte darüber nach, dass Lulu und Brandon während der Entführung davon gesprochen hatten, ich sei die einzige Patientin auf dem gesamten Stockwerk. Offensichtlich wollte die Klinik die Sache geheim halten. Weshalb?
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