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Ploetzlich Shakespeare

Ploetzlich Shakespeare

Titel: Ploetzlich Shakespeare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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Klimawandel, aber im Vergleich zu dem Leben all der Menschen, die in den Jahrtausenden vor uns gelebt hatten - sei es die Steinzeitfrau Uftata, die römischen Sklaven oder die Liebhaberinnen von Dschingis Khan -, hatten wir es doch richtig gut.
    Andererseits, was half einem so ein Vergleich? Wie mein Vater zu sagen pflegte: «Meinem Ischias geht es leider nicht besser, nur weil die Menschen in Afrika hungern.»
    Die Menschen hier jammerten hingegen überhaupt nicht, trotz all der Mühsal: Stattdessen schimpften sie, keiften und johlten. Und während ich sie so ansah, musste ich daran denken, dass sie alle in meiner Zeit schon seit Jahrhunderten verstorben waren. Sie waren schon längst Staub in der Erde, selbst ihre Särge waren Staub in der Erde, und höchstwahrscheinlich waren es auch ihre Grabsteine. Selbst wenn sie achtzig Jahre lang leben würden, ihre Existenz wäre nur wie ein Wimpernschlag im Verlauf der Weltgeschichte. Das Gleiche galt für die Menschen unserer Zeit, im dritten Jahrtausend. Alles, was uns so sehr aufregte, würde im großen Lauf der Zeit komplett unbedeutend werden: Finanzkrisen, Klimakatastrophe, Handytarife ...
    Wir waren ja alle so was von vergänglich.
    Der einzige Trost war, dass die Seele anscheinend wiedergeboren wird, auch wenn man selbst davon nichts merkte. Anscheinend führte die Seele ein eigenes unsterbliches Leben, während alles andere verging: sowohl die verschiedenen Körper, die die Seele jeweils behausten, als auch der Geist, der unser ausmachte, unsere Persönlichkeit, unser Individuum. Das bewusste Ich von mir Rosa würde vergehen. Bleiben würde immer nur die Seele, eine ewige Substanz ohne Bewusstsein.
    Ich fragte mich, ob die Menschen hier die Dinge wohl anders machen würden, wenn sie wüssten, was ich jetzt weiß: nämlich wie vergänglich ihr Ich war. Würde die dicke Frau mit dem schäbigen Rock sich dann noch genauso darüber aufregen, dass die Äpfel, die man ihr verkaufen wollte, wurmstichig waren? Würde der alte Mann mit der viel zu engen Strumpfhose sich von seiner Frau weiter als (Mann, dessen Gemächt einer Dörrpflaume gleicht) verhöhnen lassen? Würde die Gräfin Maria wirklich sieben Jahre um ihren Bruder trauern, wenn sie wüsste, dass sie nicht mehr allzu viele Sieben-Jahres-Abschnitte in ihrem Leben hätte? Würde der circa elfjährige Junge, der gerade den Passanten auf der Straße anbot, für Geld die Ratten aus ihren Häusern zu vertreiben, vielleicht nicht doch zur Schule gehen, wenn er ein stärkeres Bewusstsein dafür hätte, dass er nur dieses eine Leben gestalten konnte?
    Wäre ich Grundschullehrerin geworden?
    Wohl eher nicht.
    Mir wurde in diesem Augenblick klar, wie viel wertvolle Lebenszeit ich schon verschwendet hatte. Zum Beispiel mit meinem ersten Sex. Und mit meinem zweiten. Und sehr vielen anderen. Und mit meinen ersten Beziehungen. Zusammengezählt war das schätzungsweise ein Dreivierteljahr meines Lebens, das ich verschwendet hatte und nie wieder zurückkriegen würde.
    Außerdem gab es noch einen Haufen Dinge, die ich in meinem Leben nicht gewürdigt hatte, die ich aber in der Rückschau mehr hätte genießen sollen: die Zeit, die meine Eltern so gerne mit mir verbringen wollten. Ich hatte auch die Zeit mit Holgi nie richtig zu würdigen gewusst (ich dachte immer, ich brauchte in meinem Leben echte Freundinnen, so wie die Mädchen bei , dabei war Holgi immer für mich da: Jedes Mal, wenn ich betrunken war, brachte er mich ins Bett und verhinderte damit, dass ich Nächte mit dem Kopf auf der Klobrille schlief), und natürlich war da die Zeit, die ich mit Jan verbracht hatte und die ich dumme Kuh nicht genug genossen hatte, weil ich so mit meiner Angst beschäftigt war, er würde mich für jemand Klügeres und Schöneres verlassen. Vielleicht sollte ich das hier noch lernen: dass ich das Leben viel mehr genießen sollte? Dass die wahre Liebe dem Leben gilt?
    Wenn es so war, hatte ich noch einen weiten Weg vor mir.
     

24
    Die Kutsche erreichte das heruntergekommene Viertel, in dem sich das Theater befand, auf dessen Bühne ich heute Morgen in der Vergangenheit gelandet war. Der Kutscher setzte mich vor dem ab und erinnerte mich daran, dass er mich morgen zur Gräfin Maria abholen würde. Ich war zwar nicht scharf darauf, eine Wiedergängerin (oder besser gesagt Vorgängerin) von Olivia zu treffen, aber ich hatte noch weniger Lust, in den Tower geworfen zu werden. Also sagte ich zu dem Kutscher:

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