Ploetzlich Shakespeare
anzuhören, und zweitens wollte ich mich mitten ins Publikum stellen. Die Leute standen um die Bühne herum, nur oben gab es Sitzplätze für ein paar Adlige, die sich in diese Gegend trauten. Von der Atmosphäre war es jetzt doch nicht wie im Kino, sondern eher wie bei einem Rockkonzert. Und die Stars waren die Schauspieler. Kaum betraten die ersten die Bühne, jubelte das Publikum. Das Stück begann, und die Menschen genossen die Flucht aus ihrem eigenen harten Leben und ließen sich nur allzu gerne entführen in das Phantasieland Navarra, wo der junge König und seine Freunde einen heiligen Eid ablegten, sich mit keiner Frau zu treffen und sich stattdessen nur mit dem Studium der Literatur und der Wissenschaft zu beschäftigen. Wie man sich denken konnte, ist das ein Schwur, der nicht einfach zu halten ist, kreuzten doch die Prinzessin von Frankreich und ihre Freundinnen in Navarra auf und verdrehten den jungen Edelmännern den Kopf. Ein Liebeswahnsinn, wie man ihn auch aus Hollywoodkomödien kannte, nahm nun auf der Bühne seinen Lauf. Dass das Königreich Navarra, in dem die Handlung spielte, nur durch wenige - für unser modernes Auge geradezu lächerliche - Requisiten illustriert wurde, störte die Zuschauer nicht. Sie brauchten keine großen Aufbauten, keine millionenteuren Special Effects, sie ließen dank der Schauspieler ihre eigene Phantasie spielen. Und Phantasie brauchten sie eine Menge: Aus irgendeinem, mir nicht ganz erfindlichen Grund wurden alle Frauenrollen von Jünglingen gespielt, was insbesondere den Liebesszenen einen «Käfig voller Narren»-Touch verlieh.
Dieses Theater hier war so völlig anders als in unserer Zeit, hier ging es darum, die Menschen zu unterhalten, ihnen Emotionen zu geben, nicht um irgendeinen abstrakten Bildungsbürgerschmonzes. Und die Zuschauer gingen mit: Sie johlten, wenn die liebestollen Männer sich zum Affen machten, schmolzen dahin, wenn sich die Liebenden ihre Gefühle gestanden, und hielten den Atem an, als die Nachricht kam, dass der französische König verstorben sei und daher die Prinzessin die Heimreise antreten müsse, ohne vorher ihren Liebsten, den König von Navarra, heiraten zu können.
Selbst grobschlächtige Männer, die wohl ansonsten nur weinen, wenn sie bei einer Schlägerei Finger in die Augen gestochen bekamen, zeigten Gefühle. Auch ich hatte Tränen in den Augen. Nicht nur, weil ich mit dem Mann in Frauenklamotten, der die Prinzessin verkörperte, mitfühlte. Was mich viel mehr bewegte, war die Tatsache, dass die über tausend Menschen hier so elektrisiert von der Geschichte waren, ihre Alltagssorgen vergaßen und tiefe, wunderbare Emotionen durchlebten. Emotionen, die sie in ihrem wahren Leben vielleicht nie so spüren konnten. All das nur, weil Shakespeare ein Stück geschrieben hatte.
Dass meine Seele zu so etwas fähig war ... einfach unglaublich.
Bedeutete es, dass ich auch zu so etwas fähig war? Dass mehr in mir steckte?
Wäre das nicht wundervoll? Nicht sehr wahrscheinlich. Aber wundervoll.
25
Am Ende der Vorstellung waren Frauen und Männer sich einig, dass Shakespeare der romantischste Mensch auf Erden sein musste, sonst hätte er solche Liebesdialoge nicht schreiben können.
«Wenn die wüssten...», schoss es mir durch den Kopf.
Doch dann dachte ich: War es nicht unmöglich, solche Liebesbekundungen zu schreiben, wenn man sie nicht fühlte? Vielleicht hatten die Leute ja doch recht: Shakespeare musste irgendwo tief im Inneren eine romantische Seite haben.
Und noch etwas erschien mir recht merkwürdig: war eine fröhliche Komödie, aber sie hatte kein Happy End. Warum endete sie so traurig? Hatte das etwas mit Shakespeares eigenem Leben zu tun? Hatte ihn da etwas so bekümmert, dass er seine Romantik nur noch in seinen Stücken ausdrücken konnte? War er eine verletzte Seele? Sowie ich?
Nach dem Stück bat ich den Dicken namens Kempe, zu bringen. Ich hatte ja keine Ahnung, wo Shakespeare lebte, und der Barde selbst gab mir immer noch keine Antwort. Kempe trat mit mir aus dem Theater heraus auf die Straße, die im abendlichen Sonnenrot schimmerte und auf der die beseelten Theaterbesucher sich auf den Weg nach Hause begaben.
«Haben wir nicht einen wunderbaren Beruf?», schwärmte der dicke Mann.
«Ich ... glaube schon», gab ich ihm recht. Menschen so glücklich zu machen, musste wirklich wunderbar sein. Klar, es gab auch Grundschullehrerinnen, die ihren Beruf wunderbar
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