Ploetzlich Shakespeare
es, so zu werden wie mein Vater.»
Das konnte ich gut verstehen, ich wollte ja auch nicht so sein wie meine Mutter. Neugierig fragte ich weiter: «Und, siehst du deine Kinder oft?»
«Viel zu selten.»
Er gab sich Mühe, sämtliche Trauer aus seiner Stimme zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Mitfühlend fragte ich: «Du liebst sie sehr, nicht wahr?»
«Nur ein Barbar würde seine Kinder nicht lieben!»
«Bist du geschieden?»
«Geschieden? Was soll denn das bedeuten?»
Ach ja, stimmte ja: Scheidung war ein Konzept, das hier noch nicht erfunden war. Genauso wenig wie Ehevertrag, Alimente und Sorgerechtsstreit. Ich korrigierte meine Frage: «Ich meine, was ist mit deiner Frau? Warum wollte sie nicht mit dir nach London?»
«Du bist sehr neugierig, Rosa.»
«Verzeih...», antwortete ich. Er hatte ja recht, das Ganze ging mich rein gar nichts an. Ich war nur ein Geist, der zufällig seinen Körper übernommen hatte, keine Freundin.
Es tat mir leid, dass ich Rosa so rüde zurückgewiesen hatte. Offenbar schien sie sich aufrichtig für mein Schicksal zu interessieren und war damit außer meinem treuen Gefährten Kempe das einzige Wesen auf Gottes Erde, das an meinem Schicksal Anteil nehmen wollte. Sollte ich Rosa von Anne erzählen?
Shakespeare schwieg, und ich spürte instinktiv, dass er gerne über seine Gefühle reden wollte, sich aber nicht traute. Typisch Mann!
«Manchmal tut es auch gut, über seine Gefühle zu sprechen ...», bot ich ihm daher an.
Über seine Gefühle zu sprechen, dachte ich mir, was ist denn das für eine merkwürdige Idee.
«Ich weiß ja, dass euch Männern das schwerfällt. Aber über seine Gefühle zu reden, ist wie Erbrechen.» «Erbrechen?»
«Anfangs ist es unangenehm, aber danach fühlt man sich erleichtert.»
«Du hast ein interessantes Gespür für Metaphern», musste ich amüsiert feststellen.
«Danke», grinste ich.
Für einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich es nicht tatsächlich wagen sollte. Schließlich hatte ich seit Jahren mit niemandem über meinen Schmerz gesprochen. Außer in jener Nacht, wo ich der Hure Sophie alles anvertraute, was mein Herz beschwerte, wohl wissend, dass die Hure betrunken vor sich hin schnarchte. Aber auch, wenn ich Rosa fast glauben mochte, dass es mich erleichtern könnte, endlich mein Herz auszuschütten, konnte ich immer noch nicht genug Mut fassen, irgendeiner Person die Geschichte meines Schicksals anzuvertrauen.
«Und, magst du reden?», fragte ich vorsichtig.
«Ich bin müde. Ich muss mich ausruhen...»
Von da an sagte Shakespeare kein Wort mehr. Wir waren wohl bei weitem nicht so weit, miteinander über Gefühle zu reden. Eventuell war das auch gar nicht nötig, nicht angemessen ... wenn man es recht bedachte, war es auch absurd: Warum sollte der große Shakespeare ausgerechnet mit jemandem wie mir über seine Gefühle reden?
Vielleicht weil wir ein und dieselbe Seele hatten.
Ich verspürte bei diesem Gedanken ein klein wenig Hoffnung: Shakespeare und ich hatten es beide nicht leicht mit der Liebe. Vielleicht war es ja möglich, dass wir uns doch irgendwann gegenseitig helfen. Womöglich könnten wir ja gemeinsam herausfinden, was die wahre Liebe ist.
35
Die Kutsche fuhr durch die Stadt auf dem Weg zur Gräfin, und ich konnte nur hoffen, dass die spanischen Spione mir nicht folgten. Ich realisierte nun auch, dass Essex nicht bei uns war - war er noch im Theater? Ich war so sehr mit Shakespeare und meiner Situation beschäftigt, dass ich ihn fast vergessen hatte. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich nicht mit dem Gedanken an Jan aufgewacht war.
Die Kutsche näherte sich dem Stadttor, das von Soldaten bewacht wurde. Auf dem Weg dorthin schlichen uns ärmlich aussehende Bauern entgegen, die von außerhalb in die Stadt kamen und Wagen mit Getreide hinter sich herzogen - Pferde konnten sie sich anscheinend nicht leisten. Die Männer sahen unglaublich ausgemergelt aus und hätten sich sicherlich über EU-Agrar-Subventionen gefreut. Als wir das Tor passierten, sah ich etwas unglaublich Schreckliches: zwei abgeschlagene, auf Speere aufgespießte Menschenköpfe. Ich hatte so einen furchtbaren Anblick noch nie gesehen und rechnete damit, dass ich mich jeden Augenblick übergeben musste, aber anscheinend war Shakespeares Magen stabiler als meiner. Er war wohl an solche Anblicke gewöhnt. Ich bekam immer mehr Mitgefühl mit ihm.
Er selbst meldete sich nicht zu Wort, er schlief offenbar
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