P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Statistik.
»Wir führen eine doppelte Buchhaltung. Wir könnten jederzeit einen Footprint von 0,7 haben, drücken ihn aber gezielt auf 1,1 hoch. Du hast unseren Auto-Pool gesehen? Nun ja, wir fahren manchmal mit den Autos zur nächsten Stadt, wir machen ein paar unnötige Flugreisen – und schon sieht das Ganze relativ unverdächtig aus. Das Gleiche gilt für die Energiebilanz. Wir können jederzeit auf dem Niveau von 500 Watt funktionieren – wir haben dafür ein Testjahrgemacht –, aber wir drücken sie auf 1000 hoch, damit es nicht allzu provokativ aussieht.«
»Darum hört man so wenig von Alívio«, sagte ich.
»Ja, und ich hoffe, dass ihr uns dabei helft, dass das so bleibt, bis der Rest der Welt so weit ist.«
»Meinst du, das wird er je sein?«
»Keine Ahnung. Theoretisch gibt es gerade noch ein Fenster für einen Wandel. Politisch sieht es schwierig aus.«
»Politik ist nur ein Oberflächenphänomen, das Problem sind die gesellschaftlichen Verhaltensweisen und Vorstellungen.«
»Alívio bedingt einen andern Lebensstil jenseits des Konsumismus. Statt via Konsumartikel beteiligen sich hier die Menschen direkt am gesellschaftlichen Leben. Darum sind unsere Löhne auch phantastisch tief. Unser Wohlstand definiert sich fast nicht mehr über Geldeinkommen und Erwerb von Gütern.«
»Gibt’s denn in Alívio noch Lohnunterschiede?«
»Allerdings, aber nicht extreme. Wir haben den höchsten Lohn auf das Zwölffache des tiefsten angesetzt.«
»Das ist immer noch ziemlich ungleich.«
»Wir könnten das Verhältnis auf eins zu drei ansetzen, aber das wäre auffällig in einem Land, wo die Unterschiede eins zu hundert sind. De facto beziehen hier alle den gleichen Lohn, die, die mehr verdienen, investieren ihr Geld einfach in weitere Alívio-Projekte. Überdies zahlen sie höhere Steuern und unterstützen so die öffentlichen Dienste.«
»Sie machen den Manetti!«
»Wenn du so willst.«
Ich überlegte. »Eigentlich ist Alívio nichts Besonderes. Man hätte das schon immer so machen können, und man könnte es überall auf der Welt so machen. Schon Owen und Morris haben solche Gesellschaftsformen vorgeschlagen.«
»Das meine ich mit Normalität. Der Kapitalismus ist ein Ausnahmezustand, ein systemischer Ausrutscher, eine Art von pfadabhängiger Verirrung. Die Herausforderung besteht darin, aus dieser Grube herauszuklettern. Man ist hingefallenund kann nicht mehr aufstehen. Da braucht es manchmal eine helfende Hand.«
»Oder einen Aufstand.«
»Richtig, aber sag das nicht zu laut. Alívio
ist
ein Aufstand.« Roberto führte mich durch die Betriebe der Alivicom. Im Grunde hatten diese sich aus Lösungsstrategien für Probleme ergeben, die sich mit dem Wachstum vom Landwirtschaftsbetrieb zur ländlichen Kleinstadt der Reihe nach stellten. Es wurden verschiedene Anlagen zur Energieerzeugung hergestellt, natürlich aus erhältlichen industriellen Komponenten. Selbstverständlich war Alivicom nicht groß genug, um elektrovoltaische Anlagen herzustellen, es spezialisierte sich deshalb auf Biomassereaktoren, Biogas- und Ethanoltotalenergiemodule, Sonnenkollektoren verbunden mit Dampfturbinen, Windgeneratoren, Strömungsturbinen für Flüsse, effiziente Koch- und Waschanlagen für kollektive Nutzungen, Landmaschinen usw.
Es wurden genau die für die alivianische Lebensweise passenden Anlagen hergestellt. Zudem wurde das Ökodesign so verbessert, dass sie praktisch ewig funktionierten. Unter normalen Bedingungen wäre es zu teuer gewesen, Aggregate von dieser Qualität zu produzieren.
In den Werkstätten spürte ich, dass die Mitarbeitenden selbst am Unternehmen beteiligt waren. Das Klima war freundlich, das Arbeitstempo nicht hektisch, die Atmosphäre kollegial-kreativ. Man hatte Zeit, mir alles Mögliche zu erklären. Man lud mich zu Kaffee- und Zigarettenpausen ein. Es gab keine Kantinen, da man mittags ohne weiteres zur eigenen oder einer anderen
habicombi
bummeln oder radeln konnte. Die Betriebe waren zwar am Rand der Stadt, aber das waren kaum mehr als 500 Meter. So wurde eine unnötige Verdoppelung der Infrastrukturen vermieden.
Die Betriebe selbst folgten einem Meta-Ökodesign, das hauptsächlich darin bestand, nicht weiter zu expandieren, sondern eine ideale Balance zwischen Größe, Arbeitsqualität, Produktpalette und interner Ökobilanz zu erhalten. Statt zu wachsen, wollte man metastasieren. Small war hier beautiful. Die meisten Betriebe hatten um die fünfzigMitarbeitende, und die Werkstätten
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