P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
und mitleidige Blicke zu.
»Es wird immer noch gemalt«, sagte ich.
»Ja, natürlich. Das Medium ist noch nicht ausgeschöpft. Sie sind ja ein Freund von Thomas. Tut mir leid, was mit seinem Verlag geschehen ist.«
»Es kam ganz plötzlich. Er wird sicher eine Stelle bei einem anderen Verlag finden.«
»Michael hat gute Beziehungen zu einigen Kunstverlagen.« Ich sah, dass ihr Glas leer war und holte ihr ein volles vom Buffet. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass man allmählich zu Tische schritt. Ich mag zwar Apéros, aber wenn man dazu über Kunst reden muss, bin ich verloren.
Ich brachte Alma den Wein und verdrückte unterwegs ein Heringsbrötchen. Sie sprach nun wieder mit den andern über Geschäfte.
»Ich werde William kontaktieren und dann Rojas in Madrid«, versprach Fred, und alle nickten zufrieden.
Später saß ich zwischen Thomas und Frau – Chantal – Lutz. Es gab zuerst etwas mit Aal, dann eine Gänsepastete und als Hauptgang Wildschweinmedaillons mit Waldpilzen, schwarzem Kartoffelgratin und grünen Bohnen. Zum Dessert wurden frische Beeren mit Schmandhaube gereicht.
Chantal erzählte mir in groben Zügen, wie sie das vernachlässigte Gutshaus von einer LPG übernommen und renoviert hatten. Ihr Mann, Theo, ein pensionierter Banker, hatte sich als geschickter Handwerker erwiesen.
»Er war ja im Immobiliengeschäft nicht gerade unerfahren«, fügte sie hinzu. Die andern lachten wissend.
Es ging eine Weile um Immobilien in Ost und West.
»Was man hat, das hat man«, sagte ich irgendwann.
»Man muss auch wissen, wann man Liegenschaften abstoßen muss«, erklärte Theo mit einem warnenden Unterton in der Stimme.
Es wurden wieder zwei- bis dreistellige Millionenbeträge besprochen. Ich hatte keine Ahnung, von welchen Objekten gerade die Rede war. Auf jeden Fall musste man sie im richtigen Moment loswerden.
Meine Gedanken wanderten zu Frau Kallberger. Hatte Thomas dafür gesorgt, dass sie keinen Schweif von Polizisten hinter sich herzog? Und was sollte ich mit Frau Kallberger am folgenden Tag anfangen? Vielleicht hatte sie etwas herausgefunden. Ich hoffte, dass sie Band 11 mitbrachte. Nach dem Essen gab es im Wintergarten noch Kaffee, Schnäpse und kleine Süßigkeiten.
Ich zog mich relativ, aber nicht unanständig früh zurück. In meinem Zimmer hatte man mir die Bettdecke zurückgeschlagen.
Das Wanderbuch lag noch offen auf dem Nachttischchen. Diese Mecklenburgische Seenplatte sah ja ganz verlockend aus. Aber auch die Ostsee, Rostock, Stralsund, Rügen. Überall gab’s frischen Fisch, Speck, Wild, Gänse, Grünkohl, kleine Brauereien. Vielleicht waren Rita und die andern ganz in der Nähe am Wandern.
Ich nahm Uwe Tellkamps
Der Turm
in die Hand: der DDR-Wenderoman. Die
Geschichte aus einem versunkenen Land
. 1982 bis 1989. Wieder die unheimlichen achtziger Jahre, nur diesmal von der andern Seite aus gesehen. Sollte ich ihn lesen? Er lag schwer und dick wie ein Backstein in meiner Hand. Ekel überkam mich. Ich legte ihn in die Wand zurück. Da war noch
Montauk
, das New York der späten siebziger Jahre. Grass, Böll, Frisch, die Spätaufklärer. RAF. Schmidt. VW Golf. Aber auch die neue Sentimentalität, zurück zu den Wurzeln. Matriarchat. Selbstversorgung. Alemannen. Kelten. Luisa Francias
Hexentarot
. Wirtschaftsschrumpfung.
The day the dollar dies
. Viel war jetzt von ihm nicht mehr übrig, noch 95 Rappen. Und wenn es nach Professor Höllmann (oder hieß er eigentlich Hörmann?) ging, dann in ein paar Monaten gar nichts mehr. Dann gab es nur noch diverse Punktsysteme: Lebensmittelpunkte, Energiepunkte, Textilpunkte, Arbeitspunkte.
Und Max Frisch gab’s dann vielleicht als Briefmarke.
Ich öffnete das Fenster und sog die frische Nachtluft ein. Der Regen hatte aufgehört, eine Mondsichel und Sterne blinkten zwischen Wolkenfetzen. Im Bootshaus brannte Licht.
Ich packte meinen Manetti aus. 1975, Band 1. Ich nahm einen Bogen des Briefpapiers mit dem Kopfaufdruck
Gut Paltow
, den dazu passenden Kugelschreiber und begann zu lesen. Das heißt: Ich begann nach Lücken zu suchen. Was natürlich bedingte, dass ich wusste, was fehlte. Was wiederum ziemlich anstrengend war, 35 Jahre später. Die erste Lücke fühlte ich so ums Jahr 1978. Es fehlte die ganze Sache um Aldo Moro, dafür war dann das Massaker, oder der Massenselbstmord, von Jonestown indirekt wieder ein Thema. Die Faszination der Sekten, der Rückzug in Phantasiereiche. Macht nicht als Resultante sozialer Verhältnisse,
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