Poirot Rechnet ab
Kamillentee!«
Wie als Antwort auf ein Gebet wurde die Klappe des Zeltes hochgehoben, und Hassan erschien und trug eine dampfende Tasse, die er Poirot anbot. Es zeigte sich, dass es Kamillentee war, ein Getränk, das er leidenschaftlich gern mochte. Nachdem er Hassan gedankt hatte und sein Angebot, mir auch eine Tasse zu bringen, abgelehnt war, ließ uns Hassan wieder allein. Nachdem ich mich ausgezogen hatte, stand ich noch eine Weile am Eingang des Zeltes und sah in die Wüste hinaus.
»Ein wunderbarer Fleck«, sagte ich laut, »und eine wunderbare Arbeit, ich bin fasziniert. Dieses Leben in der Wüste, dieses Eindringen in das Herz einer vergangenen Zivilisation – Poirot, Sie müssen den Zauber doch auch verspüren?«
Ich bekam keine Antwort und drehte mich ein wenig verärgert um. Was ich sah, ließ mich erstarren. Poirot lag quer über dem primitiven Bett, sein Gesicht war schrecklich verzogen. Neben ihm stand die leere Tasse. Ich stürzte zu ihm, dann raste ich hinüber zu Dr. Ames’ Zelt.
»Dr. Ames!«, rief ich. »Kommen Sie sofort!«
»Was ist denn los?«, sagte der Doktor und erschien im Pyjama. »Mein Freund… er ist krank… er stirbt… der Kamillentee! Behalten Sie Hassan im Auge!«
»Eigenartig«, rief Ames. »Das sieht ganz nach einem Krampf aus – oder – was haben Sie gesagt, hat er für ein Zeug getrunken?«
Er nahm die leere Tasse hoch.
»Nichts habe ich getrunken!«, sagte eine ruhige Stimme. Wir drehten uns überrascht um. Poirot saß auf dem Bett und lächelte. »Nein«, sagte er sanft. »Ich habe wirklich nicht getrunken. Während mein guter Freund Hastings sich in lyrischen Betrachtungen über die Nacht erging, benützte ich die Gelegenheit, die Tasse zu leeren – aber nicht in meine Kehle, sondern in eine kleine Flasche. Diese kleine Flasche werden wir chemisch untersuchen lassen. Halt!« Der Doktor machte eine plötzliche Bewegung. »Als Mann mit Verstand müssten Sie eigentlich wissen, dass Sie mit Gewalt jetzt nichts mehr erreichen. Ich benützte die kurze Abwesenheit von Hastings, um die Flasche an einen sicheren Ort zu bringen! Schnell, Hastings, halten Sie ihn fest!«
Ich verstand Poirots Besorgnis falsch und stürzte mich auf ihn. Aber die rasche Bewegung des Doktors hatte eine andere Bedeutung. Seine Hand fuhr zum Mund, der Geruch von Mandeln erfüllte die Luft, er schwankte und fiel um.
»Ein weiteres Opfer«, sagte Poirot ernst, »aber das Letzte. Vielleicht ist es so am besten. Er hat drei Tote auf seinem Gewissen.«
»Dr. Ames?«, rief ich entgeistert. »Und ich dachte, Sie glauben an okkulte Einflüsse?«
»Da haben Sie mich missverstanden, Hastings. Ich glaube nicht an okkulte Einflüsse, sondern an die Macht des Aberglaubens. Wenn die Menschen einmal vom Aberglauben gepackt sind und eine Reihe von Todesfällen übernatürlichen Dingen zuschreiben, kann man einen Mann am helllichten Tag erstechen, und auch das würde auf den Fluch zurückgeführt werden. So stark ist der Aberglaube auch heute noch. Ich vermutete von Anfang an, dass sich jemand diesen Aberglauben zu Nutze macht. Mit dem Tod von Sir John Willard fing es an. Soweit ich mich überzeugt habe, konnte niemand einen besonderen Vorteil aus seinem Tod ziehen. Mr Bleibners Fall lag ganz anders. Er war ein Mann mit großem Vermögen. Die Nachrichten aus New York enthielten verschiedene Andeutungen. Zu Anfang wurde erzählt, dass der junge Bleibner sich eines guten Freundes in Ägypten gerühmt habe, von dem er borgen könne. Die meisten Leute unterstellten, er habe seinen Onkel gemeint, aber mir schien es wahrscheinlicher, dass er dann auch von einem Onkel gesprochen hätte. So dachte man an einen lustigen Kameraden. Jedenfalls – er kratzte genug Geld zusammen, um nach Ägypten zu fahren. Sein Onkel weigerte sich glatt, ihm auch nur einen Pfennig zu geben – trotzdem konnte er die Rückfahrt nach New York bezahlen. Irgendjemand musste ihm also das Geld geliehen haben.«
»Das ist aber vorläufig alles sehr dünn«, wandte ich ein.
»Aber ich bin noch nicht am Ende. Der junge Bleibner schrieb klar und eindeutig Ich bin ein Leprakranker, aber niemand hielt diese Krankheit für die Ursache seines Selbstmords.«
»Was?«, rief ich aus.
»So etwas konnte nur ein diabolisches Hirn erfunden haben. Der junge Bleibner litt an einer harmlosen Hautkrankheit, er hatte lange Zeit auf Südsee-Inseln gelebt; dort sind diese harmlosen Hautleiden sehr verbreitet. Ames war ein früherer Freund von ihm und ein
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