Poirots erste Fälle
sie auf der Treppe sprechen. Nachdem sie mir das Haar g e bürstet hatte, schickte ich sie fort – sie war in merkwürdig nervöser Verfassung. Danach habe ich noch ein wenig gelesen und bin dann zu Bett g e gangen.«
»Und Sie, Lady Juliet?«
»Ich bin geradewegs nach oben gegangen und habe mich schl a fen gelegt. Ich war sehr müde.«
»Und was ist mit Ihrem Buch, meine Liebe?«, fragte Mrs Conrad mit süßlichem Lächeln.
»Welches Buch?« Lady Juliet lief rot an.
»Aber das wissen Sie doch. Als ich Léonie fortschic k te, kamen Sie gerade die Treppe herauf. Sie sagten, Sie seien unten im Salon gew e sen, um sich ein Buch zu holen.«
»Ach ja, ich war noch einmal unten. Das hatte ich ve r gessen.«
Nervös rang Lady Juliet die Hände.
»Haben Sie Mrs Conrads Mädchen schreien hören, M y lady?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Wie seltsam – just zu diesem Zeitpunkt müssen Sie im Salon gew e sen sein.«
»Ich habe nichts gehört«, wiederholte Lady Juliet mit festerer Sti m me.
Poirot wandte sich an den jungen Leonard.
»Monsieur?«
»Nichts von Bedeutung. Ich bin nach oben gegangen und habe mich hingelegt.«
Poirot strich sich übers Kinn.
»Nun, ich fürchte, das hilft mir alles nicht weiter. Me s dames et Monsieur, ich bedaure – ich bedaure außero r dentlich, Sie für so wenig Ertrag aus dem Schlaf gerissen zu haben. Bitte nehmen Sie meine En t schuldigung an.«
Mit reichlich Gesten und Entschuldigungen geleitete er sie aus dem Zimmer. Zurück kehrte er in Begleitung des französischen Mädchens, einer hübschen, kess wirkenden jungen Frau. Alloway und Weardale waren zusammen mit den Damen gegangen.
»Also, Mademoiselle«, sagte Poirot in schneidigem Ton, »kommen wir zur Wahrheit. Ich will keine G e schichten hören. Warum haben Sie auf der Treppe geschrien?«
»Ach, Monsieur, ich habe eine große Gestalt ges e hen… ganz in Weiß…«
Mit einem energischen Schütteln des Zeigefingers brachte Poirot sie zum Schweigen.
»Sagte ich nicht, ich will keine Geschichten hören? La s sen Sie mich raten. Er hat sie geküsst, richtig? Monsieur Leonard Wea r dale?«
»Eh bien, Monsieur, aber was ist schon ein Kuss?«
»Unter den gegebenen Umständen – das Normalste der Welt«, antwortete Poirot höflich. »Ich selbst oder Ha s tings hier… aber erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Er hat sich mir von hinten genähert und mich g e packt. Ich habe mich erschreckt und geschrien. Hätte ich g e wusst, dass er es war, hätte ich nicht geschrien – aber er hat sich angeschlichen wie eine Katze. Dann erschien Monsieur le secrétaire. Monsieur Le o nard eilte die Treppe hinauf. Und was hätte ich denn sagen sollen? Besonders zu einem jeune homme comme ça – tellement comme il faut? Ma foi, dann habe ich den Geist erfunden.«
»Das erklärt alles«, rief Poirot heiter. »Daraufhin h a ben Sie sich zum Gemach Ihrer Herrin begeben. Übr i gens, in welchem Zi m mer wohnt sie?«
»Ganz am Ende, Monsieur. In die Richtung.«
»Also direkt über dem Arbeitszimmer. Bien, Mademo i selle, ich will Sie nicht länger aufhalten. Und la pr o chaine fois, schreien Sie nicht.«
Er begleitete sie nach draußen und kam lächelnd z u rück.
»Ein interessanter Fall, nicht wahr, Hastings? Ich h a be da ein paar Ideen. Et vous?«
»Was hatte Leonard Weardale auf der Treppe zu s u chen? Ich mag diesen jungen Mann nicht, Poirot. Er ist ein rechter Wüs t ling, würde ich sagen.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, mon ami.«
»Fitzroy dagegen scheint eine ehrliche Haut zu sein.«
»Jedenfalls ist Lord Alloway sehr darauf bedacht, das zu bet o nen.«
»Und dennoch liegt da etwas in seiner Art…«
»Das fast zu gut scheint, um wahr zu sein? Genauso habe ich es auch empfunden. An unserer Freundin Mrs Conrad dagegen ist siche r lich nicht viel Gutes.«
»Und ihr Zimmer liegt über dem Arbeitszimmer«, b e merkte ich nachdenklich, ohne Poirot aus den A u gen zu lassen.
Der schüttelte leise lächelnd den Kopf.
»Nein, mon ami, dass diese untadelige Dame durch den Kamin fährt oder sich vom Balkon hangelt, vermag ich nicht zu gla u ben.«
Während er sprach, ging die Tür auf, und zu meiner großen Überraschung huschte Lady Juliet Weardale he r ein.
»Monsieur Poirot«, sagte sie etwas atemlos. »Könnte ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen?«
»Mylady, Captain Hastings ist wie mein zweites Ich. In seiner A n wesenheit können Sie sprechen, als wäre er ein belangloses Ding, gar nicht da. Nehmen Sie doch
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