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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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daß du früher einmal Kriminalbeamter warst? Und warum bist du’s eigentlich heute nicht mehr? Was hast du über das tote Mädchen herausbekommen? Statt dessen sagte er aufgeräumt: »Das trifft sich gut, dann kannst du mir ja ein bißchen zur Hand gehen.«
    Damit drückte er Arkadi eine Uhr in die Hand, ein japanisches Fabrikat aus Plastik. »Hier, siehst du, der oberste Knopf beleuchtet die Digitalanzeige.«
    »Warum machst du das eigentlich?« fragte Arkadi.
    »Um meinen Geist am Leben zu erhalten, darum. Fertig?«
    »Kann losgehen.«
    Das Auge am Fernrohr seines Sextanten, schwenkte Kolja die Maßschraube über den Spiegelbogen und peilte den Mond an. Die Faszination eines Sextanten, so hatte er Arkadi einmal erklärt, beruhe darauf, daß es ein ausgesprochen archaisches Instrument sei, einfach und kompliziert zugleich. Im wesentlichen bestand er aus zwei auf einem Bogen angeordneten Spiegeln, die dazu dienten, den Winkelabstand zweier Sterne, beziehungsweise die Höhe eines Sterns über dem Horizont zu messen.
    »Achtung, jetzt!«
    »10:15.31.«
    »22:15.31.« Kolja rechnete auf nautische Zeit um.
    Als junger Pionier hatte Arkadi auch einmal Astronavigation betrieben. Er erinnerte sich gut an all die nautischen Jahrbücher, die Höhentafeln, Himmelskarten und Kurslineale, nicht zu reden von den Stößen von Schmierpapier, die er dazu benötigt hatte. Kolja machte das alles im Kopf.
    »Wie viele Almanache hast du eigentlich im Kopf?« fragte Arkadi.
    »Sonne, Mond und Großer Bär.«
    Arkadi legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Wie hell die Sterne funkelten, und dabei wirkten sie doch so unendlich fern und unerreichbar, ein entrücktes Farbenspiel, aber intensiv wie bengalisches Feuer.
    »Das ist der Kleine Bär.« Arkadi zeigte mit ausgestrecktem Arm direkt über sich.
    »Den sieht man von hier aus immer«, sagte Kolja. »Auf dieser Breite sind wir dauernd unter dem Kleinen Bären.«
    Wenn Kolja seine Berechnungen anstellte, trat jedesmal ein starrer, nach innen gekehrter Ausdruck in seine Augen, eine Art’ Verzückung. Arkadi erriet, daß er jetzt die Strahlenbrechung des Mondes subtrahierte, die Parallaxe addierte, um dann zur Deklination des Mondes zu kommen.
    »Ich glaube fast, du bist schon zu lange unter dem Kleinen Bären. Ist doch verrückt, was du da machst.«
    »Aber woher denn, das ist auch nicht schwerer, als blind Schach zu spielen.«
    Kolja lächelte sogar, wie um zu beweisen, daß er sich gleichzeitig unterhalten und nachdenken konnte.
    »Stört es dich eigentlich nicht, daß ein Sextant auf der Vorstellung beruht, die Sonne würde sich um die Erde drehen?«
    Kolja zögerte einen Moment. »Im Gegensatz zu anderen Systemen funktioniert dieses zumindest.«
    Sobald die Deklination stand, würde Kolja im Geiste die memorierten Tabellen durchsehen. Das war eine Anstrengung, wie sie nur ein im Grunde manischer Charakter freiwillig auf sich nehmen konnte, eben jemand, der auch im Dunkeln nach Walen Ausschau hielt. Das heißt, so dunkel war es eigentlich gar nicht. Wann immer die Wellenkämme den Widerschein des Mondes einfingen, war es, als sähe man das Meer ruhig und gleichmäßig atmen.
    In seinem ersten Monat auf See hatte Arkadi viel Zeit an Deck verbracht, um Delphine, Seelöwen oder Wale zu beobachten, um zuzusehen, wie sie sich durchs Wasser bewegten. Das Meer gab einem die Illusion, daß man den Dingen entfliehen könnte. Aber nach einer Weile erkannte er, daß diese Geschöpfe des Meeres, auch wenn sie in stetem Wechsel bald hierhin, bald dorthin schwammen, doch ein Ziel hatten. Und genau das war es, was ihm fehlte.
    Wieder blickte er hinauf zum Kleinen Bären und folgte dann seinem Schweif bis hinunter zum Polarstern. Ein russisches Märchen erzählte, der Polarstern sei in Wahrheit ein tollwütiger Hund, mit einer eisernen Kette an den Kleinen Bären gefesselt, und sollte diese Kette jemals reißen, dann sei das Ende der Welt gekommen.
    »Packt dich eigentlich nie die Wut, Kolja? Wenn du daran denkst, daß du, ein Botaniker, hier festsitzt, viele Hundert Kilometer vom Festland entfernt?«
    »Aber nur knapp hundert Faden über dem Meeresgrund. Und es entsteht ja dauernd neues Land. Die Aleuten zum Beispiel, die vergrößern sich immer noch und wachsen.«
    »Ich glaube, das ist mir eine etwas zu langfristige Perspektive«, sagte Arkadi. Er spürte die Besorgnis des Freundes; Kolja wurde immer ängstlich, wenn er Arkadi deprimiert sah.
    »Hast du dir jemals Gedanken darüber

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