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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Diese beiden hatten Mäntel an, trugen Hüte und stiegen behutsam über die vereisten Furchen. Einer hob von einem Kohlenhaufen einen Pickel auf und nahm ihn mit. Diebstahl von Baumaterial, geheiligtem Staatseigentum, war nichts Ungewöhnliches; genau deshalb wurden ja Wachtposten angestellt. Wenn ihr das Ding haben wollt, laßt es mitgehen, dachte Arkadi ungerührt. Die beiden Männer duckten sich in den Schatten und warteten. Es war mindestens zehn Grad unter Null, und Arkadi spürte, wie die Kälte in ihm hochkroch. Irgendwie fühlte er sich, als schmore er an einem Bratspieß. Er stopfte sich einen Handschuh in den Mund, um zu verhindern, daß seine Zähne klapperten. In der Dunkelheit sah er, wie die beiden Männer fröstelten und mit verschränkten Armen auf der Stelle hüpften; ihr Atem wehte in kristallenen Wölkchen zu Boden. Endlich gaben sie auf und staksten steifbeinig zu dem Feuer, das in einer Öltonne brannte. Der mit dem Pickel streckte die Hand aus und löste behutsam die steifen Finger, die den Griff umschlossen hielten; der Pickel fiel hinunter und schlug gegen sein Knie, wovon der Mann nicht das geringste zu spüren schien. Der andere fror derartig, daß ihm Tränen über das Gesicht liefen, die in wächsernen Strömen auf seiner Haut gefroren. Er wollte rauchen, doch er bekam keine einzelne Zigarette zu fassen; die halbe Packung verstreute er teils in die Tonne, teils auf den Boden. Endlich verschwanden   sie  wieder,   langsam  und   so  gebeugt und schwankend, als kämpften sie gegen einen Sturm an. Arkadi hörte einen von ihnen stürzen: ein gedämpfter Aufprall und ein schmerzgequälter Fluch. Eine Minute später wurden Autotüren zugeschlagen, und ein Motor heulte auf.
    Arkadi robbte auf allen vieren zur flackernden Tonne. Er goß Kerosin nach, kippte selbst einen tüchtigen Wodka, und als es Tag wurde, kehrte er nicht wieder in seine Unterkunft zurück. Statt dessen begab er sich zum Flughafen und bestieg eine Maschine nach Osten, floh weiter nach Sibirien hinein, wie ein Fuchs, der sich tiefer in den Wald zurückzieht.
    Er war einigermaßen sicher. Bei dem Arbeitskräftemangel in Sibirien konnte man es sich nicht leisten, Fragen zu stellen. Und fürs Bahnschwellenverlegen, Eishacken oder Rentierschlachten zahlte man jedem kräftigen Mann die doppelte Prämie, denn auch sibirische Direktoren hatten ein Soll zu erfüllen. Ein Mann, der mit einer Kettensäge Eisblöcke zerlegte, mochte Alkoholiker sein, Verbrecher, Landstreicher oder auch ein Heiliger. Was spielte das schon für eine Rolle? Sobald das Soll erfüllt war, verglich ein ortsansässiger Apparatschik die Namen der Arbeiter mit einer Liste jener Personen, an denen der KGB oder die Miliz Interesse bekundet hatten. Aber keiner dieser Orte war mehr als ein winziger Punkt in einer Landmasse, zweimal so groß wie China. Darum waren Arbeitskräfte auch so besonders hoch geschätzt, Sibiriens fünfzehn Millionen Einwohnern stand schließlich eine Milliarde neidischer Chinesen gegenüber! Und wo immer ein Agent des Staatssicherheitsdienstes auftauchte, war Arkadi auch schon wieder verschwunden.
    Merkwürdig war, daß Irina zwar aus Sibirien stammte, er aber nie auf eine Frau traf, die ihr irgendwie ähnlich gesehen hätte, weder in den Arbeitslagern noch in den Dörfern, durch die er kam. Ganz zu schweigen von den Usbekinnen, Burjatinnen oder jenen Frauen, die sich um die Zementmischmaschinen scharten, als gälte es, eine Kuh zu melken. Und natürlich glich ihr auch keines der Prinzeßchen von den Jungen Pionieren, die für jeweils sechs Monate herauskamen, um sich auf Traktoren fotografieren zu lassen und dann wieder heimzufliegen, nachdem sie ihr Lebensquantum an freiwilliger Arbeit abgeleistet hatten.
    Aber wenn er sich Mühe gab, dann konnte er auf den Laufbrettern eines Arbeitslagers stehen und die Gewißheit spüren, daß die nächste Frau, die von einem Laster in den Schlamm springen würde, mit offener Jacke, ein Tuch über dem Haar und den Henkelmann unterm Arm, daß diese Frau Irina sein würde. Irgendwie war sie zurückgekehrt und dank einer Kette von unwahrscheinlichen Zufällen genau am selben Ort gelandet wie er. Sein Herz stockte, bis sie sich aufrichtete und ihn ansah. Und dann glaubte er zuversichtlich, Irina würde die nächste auf dem Wagen sein. Es war wie ein Kinderspiel.
    So entging er der Grübelei.
    Am Ende des zweiten Jahres setzte er auf der Flucht vor den Grenzwachen von Sachalin zurück aufs Festland

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