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Polarfieber (German Edition)

Polarfieber (German Edition)

Titel: Polarfieber (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Henry
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des Windes wurden diese Tränen noch in seinen Augen zu einem glibberigen Film, der sich nicht wegwischen ließ.
    „Komm schon!“ Sie stieß ihn an. „Los, zehn Schritte, dann sind wir oben.“
    Wo nahm sie die verdammte Energie her? Sie schubste ihn erneut, und nur weil er sonst umgefallen wäre, setzte er einen Fuß vor den anderen. Und noch einmal. Eine Verschnaufpause des Windes ließ den Vorhang aus Sprühschnee aufreißen. Der Gipfel. Zum Greifen nah. Kaya stapfte voran, blieb stehen, drehte sich zu ihm um und winkte.
    „Ich hatte recht!“, rief sie und sah aus, als würde sie jeden Moment in einen Freudentanz ausbrechen.
    Ihre Worte hatten den gewünschten Effekt. Seine Füße fühlten sich leichter an. Felsen. Eis. Schnee. Weißschäumende Krönchen auf den Wellen, die an Abertausenden Eisschollen und kleinen und großen Eisbergen leckten. Was waren Inseln, was waren Eisberge? Er wollte sich auf den Hintern fallen lassen, aber Kaya packte seinen Arm und wies direkt unter sie. Auf einen Fleck auf dem weiß gepuderten Land. Nur ein Punkt.
    „Weißt du, was das ist?“, schrie sie, damit er sie gegen das Geheul des Windes hören konnte.
    „Ein Punkt“, erwiderte er müde.
    „Das da …“ Ihre Hand beschrieb einen Kreis um den Punkt. „ist eine Seitenmündung des Igdlugdlip Sermia. Der Gletscher, wo wir abgestürzt sind, war also wirklich der Nunatakavsaup, wie ich es gesagt habe.“
    „Kaya …“ Er schüttelte den Kopf. Warum hatten sie diesen verfluchten Eismassen nicht Namen gegeben, die ihm keine Kopfschmerzen machten? „Schön, dass dich das so freut.“
    „Dieser Seitenarm mündet in Schelfeis. Das da unten ist jahrzehntealtes Schelfeis, der Punkt, den du siehst, das ist eine Hütte. Ich wette meinen linken Arm, dass dort in diesem Augenblick ein Jäger campiert, der es auf Seehunde abgesehen hat, ehe die Melville Bucht zufriert.“
    „Sei nicht so voreilig, deinen linken Arm brauchst du vielleicht noch.“ Er weigerte sich, sich von ihrem plötzlichen Optimismus anstecken zu lassen. Optimismus war für Verlierer. Die brauchten das. Er war ein Verlierer, der das nicht brauchte. Er atmete tief durch.
    „Okay, gehen wir runter. Halt!“ Er hielt sie fest, als sie losstürmen wollte. „Das ist steil, Kaya, und du hast seit zwei Tagen nichts Vernünftiges gegessen. Wir werden uns aneinander seilen, falls du abrutschst, kann ich dich abfangen. Das nennt man Abseilen, und du wirst dich fügen, hast du gehört? Ich werde nicht zusehen, wie du dir kurz vor dem Ziel die Beine brichst.“ Er wühlte das Seil aus seinem Backpack und schlang es um ihre Hüften. Während er einen festen Knoten band, spürte er ihren Blick auf seinen Händen.
    „Du musst in einer ziemlich heftigen Einheit gewesen sein, so wie du mit der ganzen Situation umgehst.“
    „Ich war einfach nur Soldat, Kaya.“
    „Aber du bist es nicht mehr?“
    „Nein.“
    Sie sah ihm abwartend ins Gesicht, aber er würde den Teufel tun und mehr dazu sagen. Er brauchte ihren Respekt, brauchte ihre Hilfe, um all das überstehen zu können. Wenn sie erst einmal herausfand, wer er wirklich war … dann konnte er das vergessen. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und prüfte den Knoten, während er sich selbst sicherte.
    „Nicht schlecht“, sagte sie. „Davon verstehst du wirklich etwas.“
    „Langsam, und vorsichtig“, sagte er, als er den Rucksack wieder auf den Rücken nahm und ihr das Zeichen zum Losgehen gab. „Keine Dummheiten, hörst du? Ich kann verstehen, dass du aufgeregt bist, aber …“
    „Schon in Ordnung. Ich passe auf.“
    Er glaubte ihr. Wollte ihr glauben. Sie war gewandt und kletterte sicher. Sicherer als er, wenn er ehrlich war. Er war froh, dass sie vorausging, sie fand den besten Weg mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit. Er brauchte ihr nur zu folgen und zwischendurch an sicherer Stelle abzuwarten, wenn es bei ihrem Abstieg brenzlig wurde, um sie mit dem Seil abzufangen, falls sie abrutschte. Doch sie rutschte nicht. Wie eine Katze, ging es ihm durch den Kopf. Ein Schneeleopard, zielsicher, leise, wunderschön. Er bewunderte sie.
    Auf tieferem Gelände war das Heulen des Windes weniger laut. Noch immer umgab sie dieses widerliche Gemisch aus gefrorenem Sprühregen. Silas hatte es längst aufgegeben, sich die Kapuze enger ums Gesicht ziehen zu wollen, um der Kälte zu entgehen. Es war hoffnungslos.
    Neue Geräusche mischten sich unter das Windgeheul. Das Rauschen der Wellen, das weiter oben im Berg

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