Polarfieber (German Edition)
die Kapuze vom Kopf, brachte ihr Ohr ganz nah an seinen Mund, lauschte und betete und konnte doch nur den Wind hören, das Meer und das Rauschen ihres eigenen Bluts.
„Ich … weiß nicht, ich …“, stotterte sie und die Verzweiflung in ihren Worten wollte ihr Herz brechen. Ihre Stimme klang so fremd, so angstvoll, so sehr nach der Stimme einer Frau, die um einen geliebten Menschen weint, dass sie gar nicht die ihre sein konnte, denn sie hatte doch niemanden mehr zum lieben, niemanden mehr, um den es sich zu weinen lohnte.
Ihr blieb keine Zeit, zu ergründen, was da gerade geschah, denn der Jäger, der vielleicht ein Engel war, hob Silas auf und stapfte in Richtung Hütte davon, die ihre Rettung hätte sein sollen und nun zu ihrem Unglücksort wurde. Sie raffte sich auf, folgte dem Fremden zu dem Bretterverschlag und trat, ohne um Erlaubnis zu fragen, wie es die gute Sitte verlangt hätte, ein.
„Leg die Felle dort in die Ecke. Ein paar Decken habe ich auch noch in der Truhe.“
So schnell sie konnte, machte sie, was er ihr auftrug, handelte, ohne zu denken. Verbot sich die quälenden Gedanken, ob dies nun endgültig das Ende war, ob sie ein Lager für eine Leiche richtete. Gedanken, die sie umarmten und gleichzeitig sagten: „Eine Leiche ist besser als nichts. Eine Leiche kannst du beweinen, waschen, herzen und verabschieden.“
Der Jäger legte Silas auf das Lager am Boden. Kaum berührte sein Körper die Felle, gab Silas ein Ächzen von sich. Vielleicht war es auch mehr ein Beben, aber es war ein Geräusch, bei dem Kaya beinahe wieder angefangen hätte zu weinen. Stattdessen zerrte sie die durchnässte Kapuze von seinem Kopf und schlug ihm ins Gesicht. Einmal und noch einmal. Er musste aufwachen. Alles andere hatte Zeit bis später. Bei ihrem dritten Schlag machte er endlich die Augen auf.
„Ich habe eine Suppe auf dem Feuer. Er braucht was Warmes im Bauch, dann wird er schon wieder“, kam der sonore Bass des fremden Jägers, doch Kaya hörte ihn kaum, denn in diesem Moment öffneten sich Silas’ Lippen und hoben sich an den Mundwinkeln. Es sah fast aus wie ein Lächeln, als er zischend Luft holte und nach Worten suchte.
„Du hast mich geschlagen.“ Jeder Laut ein Krächzen, aber doch Musik in ihren Ohren.
Da ließ sie die Tränen laufen, lachte, weinte und schimpfte gleichzeitig . „ Das hab ich, Silas. Und du hast es so was von ve r dient. “
*
Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit fror Kaya nicht. Der Duft von gekochtem Walfleisch hing in der Stille der kleinen Schutzhütte. Issitoq, ihr Retter , rührte mit einem Kochlöffel in dem kleinen Topf auf dem Pr o pangaskocher.
„ Und was wollt ihr jetzt machen? “ , fragte er sie auf grönlä n disch .
Kaum dass klar geworden war, dass Silas noch am L e ben und eine heiße Suppe an ihn nicht verschwendet war , hatte Kaya die Zeit genutzt, sich vorzustellen und in kurzen Worten berichtet , was sie ins Eis und direkt vor seine Hütte geführt hatte.
Sie warf Silas einen Blick zu. Müde und krank sah er aus. Selbst an einem harten Kerl wie ihm gingen die Folgen des Absturzes und der Marsch durch die Eiswüste nicht spurlos vorüber. Und das war vor seinem unfreiwilligen Bad gewesen. Tiefe Schatten lagen um seine Augen . S ie hätte schwören können , dass die Schu l tern, die jetzt in ein Robbenfell gehüllt waren, schmaler waren als noch vor Tagen. Seine Augenlider waren halb geschlossen . Auf seinen Wangen lag eine Röte, die ihr ganz und gar nicht gefiel. Wie lange mussten sie noch durch die Kälte irren, bis sie nach Nuussuaq kamen?
„ Wir müssen weiter. Bestimmt werden wir schon gesucht, aber s o lange wir keinen Ort haben, an dem wir bleiben können, s u chen sie nach einer Nadel im Heuhaufen. “
„ Ihr könnt hier bleiben, wenn ihr wollt. “
Es war ein freundliches und alles andere als selbstverständliches Angebot. Nur noch wenige kleine Schutzhütten standen auf der See, denn in diesen Jahren kam das Eis spät und ging früh. Kaum noch Gelegenheit für die Männer, die nach den alten Bräuchen ihren L e bensunterhalt verdienten, auf die Jagd gi n gen und ihre Löcher ins Eis schlugen .
„ Das ist sehr nett. Aber du brauchst deine Vorräte selbst und hier wird uns niemals jemand finden. Wir müssen in eine Sie d lung. “
Issitoq hob die Schultern und verknotete die Bänder an den Se i ten seiner Eisbärenfellhose. Mit einem Anflug von Neid musterte Kaya das zottelige Fell. Funktionswäsche nach Art der
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