Polarfieber (German Edition)
nicht bis zu ihnen gedrungen war. Das ständige Knacken und Stöhnen des Eises, wenn die Strömung es anzuheben suchte. Was hatte Kaya gesagt, dieses Schelf sei Jahrzehnte alt? So alt und sicher, dass jemand sogar eine primitive Schutzhütte darauf errichtet hatte? Im Näherkommen erkannte auch er die Bretter aus hellem unlackierten Holz, grob zusammengenagelt und mit Fangleinen wie ein Zelt im Eis verankert. Eine Zweckunterkunft, die auf nicht viel mehr als eine einzige Jagdsaison angelegt sein dürfte. Lohnte sich so etwas überhaupt? Man musste schon sagen, die Menschen hier nahmen so manches auf sich, um eine überholt und brutal wirkende Lebensweise weiterzuführen. Wer setzte sich dem freiwillig aus?
Wieder knackte und ächzte das Eis. Sie waren unten angekommen. Silas traute dem Frieden nicht. Er erinnerte sich an seine ersten Flüge für Air Greenland an der Seite von erfahrenen Piloten, die seit Jahrzehnten im Eis unterwegs waren. Schelfeis galt als relativ sicher, es brach zwar durchaus mal weg und krümelte an den Rändern Eisberge, aber wenn man eine Notlandung auf die Mitte eines Schelfs setzte, dann hielt es grundsätzlich stand. In Uferregionen sah das allerdings anders aus. Die Westgrönland-Strömung war wärmer als die darunter und darüber liegenden Wassermassen, und die Gezeiten taten ihr Übriges, um das Eis an den Küsten instabil zu halten.
Die Schutzhütte stand am Rand des Schelfs, am anderen Ufer des Fjords, den der Gletscher gegraben hatte. Gute zweihundert Meter entfernt von der Stelle, an der er und Kaya das Schelf betraten. Direkt dort, wo der Fjord sich auf das dunkelgraue Meer und das darauf dümpelnde Eisfeld öffnete und ein herrliches Panorama freigab. Silas hatte zwar das Gefühl, auf einem schwimmenden Kahn zu laufen, aber er schaffte es, sich einzureden, dass ein Schelf, das seit Jahrzehnten von einem Gletscher gefüttert wurde, wahrscheinlich zwanzig Meter in die Tiefe reichte. Kaya löste den Knoten ihrer Sicherung und rannte los. Jetzt sah auch Silas die Hunde, die vor der Hütte im Schnee lagen. Ein Hund stand auf und begann jämmerlich zu jaulen. Silas ließ die Leine fahren, die er aufrollen wollte, und rannte los. Ein jaulender Hund war nie ein gutes Zeichen.
„Verdammt, Kaya, bleib stehen! Kaya!“
Ob sie ihn nicht hören konnte oder wollte, wusste er nicht, zumindest blieb sie nicht stehen. Er konnte ihr nicht schnell genug folgen, warf den Rucksack von sich und ärgerte sich, dass seine Stiefel keine Spikes hatten. „Kaya!“
Das Schelf schien einmal tief Luft zu holen, ehe sich ein gewaltiges Krachen in der Luft ballte. Es kam von tief unter ihnen. Die Hütte wackelte ein wenig. Alle Hunde sprangen auf und kläfften, was das Zeug hielt. Kaya blieb stehen, als hätte jemand auf sie geschossen, drehte sich zu Silas um. Es wirkte fast wie die Wiederholung eines Elfmetertores in Zeitlupe. Sie sah beinahe erstaunt aus. Ein Ruck ging durch das Eis, ein zweiter, dann war er bei ihr, packte ihre Hand und riss sie an sich. Ihre Brust prallte gegen seine. Ihre Augen waren riesengroß. „Unvernünftig!“, schrie er sie an und stieß sie von dem Riss fort, der sich plötzlich als gezackte Linie in der dünnen Schneedecke abzeichnete und das Schelf ziemlich genau in der Mitte spaltete.
Im nächsten Moment waren seine Füße nass. Das halbe Schelf gab unter ihm nach. Er konnte sich nicht mehr fest genug abstoßen, um Kaya auf die sichere Seite zu folgen. Zischelnd und plätschernd zog das Meer die vordersten zwei oder drei Meter des Schelfs hinab. Es waren Sekundenbruchteile. Der rationale Teil seines Verstands wusste das, aber für den Teil, der ihn nach Grönland geschickt hatte, geschah alles in quälender, muskelzerreißender Langsamkeit. Die eisige Kälte, die seine Unterschenkel umschloss, im nächsten Augenblick schon seine Hüften. Panik. Todesangst. Wer vor Grönland ins Meer fällt, ist mausetot.
Der Sprühschnee kroch noch immer unter seine Kapuze. Eiseskälte von allen Seiten. Eis, Schnee, Kälte. Sein Herz versuchte schneller zu pumpen, aber schon hatte das Eiswasser sein Blut soweit ausgekühlt, dass jeder einzelne dieser Pumpenschläge seine Brust auseinanderreißen wollte. Panisch griff er nach dem Rand des Schelfs. Seine Hände in den Pelzfäustlingen rutschten ab. Wie aus weiter Ferne hörte er Kayas Schreie. Er wollte lächeln. Da war wirklich jemand, der um ihn weinen würde.
Er spürte seine Finger nicht mehr, spürte so gut wie gar nichts mehr,
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