Polargebiete: Tierparadiese unserer Erde
zu beantworten. In raubtierarmen Regionen scheinen sich die Lemminge durch Überweidung ihr eigenes Grab zu schaufeln: Bei über 200 Nagern pro Hektar wird die Vegetation massiv geschädigt, da sie in der Not auch die zum neuen Austreiben wichtigen Teile der Pflanzen fressen. Dann verstärkt sich die Erosion, das Erdreich taut tiefer auf, viele Lemminge verhungern oder sterben an Krankheiten. Im Lauf der nächsten zwei bis vier Jahre erholt sich die Vegetation und damit der Lemmingbestand wieder.
Auswirkungen auf andere Arten
In anderen Gebieten scheinen Raubtiere die Bestandsschwankungen zumindest zu verstärken. Von der Schneeschmelze an dezimieren Greifvögel wie Raufußbussarde, Raubmöwen, Schnee- und Sumpfohreulen die Lemminge massiv, in Nordalaska z. B. binnen weniger Juniwochen auf ein Zehntel oder Zwanzigstel. In schlechten Lemmingjahren brüten sie erst gar nicht, Eisfüchsewandern aus oder stellen sich auf andere Beutetiere um, viele Räuber verhungern. Dadurch sinkt der Jagddruck und der Nagerbestand kann sich in den folgenden Jahren erholen.
Auch Bären, Wölfe, Vielfraße und Iltisse, ja sogar Rentiere fressen Lemminge. Ihre Skelette werden von Spornammern und Schnepfenvögeln als Kalkspender genutzt. Andere Tiere sind sozusagen um zwei Ecken herum von den Lemmingen abhängig. So vermehren sich Eiderenten besser, wenn wegen einer Lemmingschwemme viele Schnee-Eulen und Raubmöwen brüten. In deren Nachbarschaft nistende Enten sind nämlich vor Eisfüchsen geschützt, da die Raubvögel sie vertreiben. Außerdem werden weniger Enteneier und Küken gefressen, wenn den Räubern – Vögeln wie Füchsen – genug kleine Nager zur Verfügung stehen.
Stress bei Überbevölkerung
Wenn die Berglemminge in einem Gebiet zu dicht aufeinanderhocken, bricht unter den Tieren immer öfter Streit aus. Sie fauchen sich an und raufen; der Stress schwächt ihr Immunsystem und sorgt für einen Reproduktionsstopp. Viele gehen an Seuchen ein, noch bevor die Nahrung so knapp wird, dass sie verhungern müssten. Dann endet die Herbstwanderung nicht an den üblichen Winterrevieren. Die jungen Männchen der Population, die bei der Vielzahl starker älterer Männchen keine Gelegenheit hätten, ein Weibchen zu erobern, ziehen weiter, um in einem anderen Lebensraum ihr Glück zu versuchen.
Keineswegs selbstmörderisch
Die Tiere suchen also keineswegs kollektiv den Tod, sondern versuchen vielmehr dem Kollektiv zu entkommen, um weiterzuleben. Nur die Topographie der Landschaft führt dazu, dass sie zu Abertausenden dicht an dicht in dieselbe Richtung eilen, und der Stress treibt sie auch tagsüber voran. In Skandinavien und auf der Halbinsel Kola kann man solche Züge am Pfeifen schon von weitem hören. Etwa dreimal im Jahrhundert dringt so ein Berglemming-Zug dabei im Süden bis zu 200 km in den borealen Wald vor.
An Hindernissen wie Steilhängen und Meeresbuchten stauen sich die Tiere. Da sie mit ihren großen Füßen und dem Luftkissenfell vorzügliche Schwimmer sind, können sie bei gutem Wetter ohne Probleme 2–3 km schwimmen und so Seen oder Flüsse durchqueren. Allerdings vermögen sie mit ihren kleinen, schwachen Augen aus ihrer niedrigen Perspektive einen See oder eine schmale Bucht nicht vom offenen Meer zu unterscheiden, in das sie daher unverzagt hinauspaddeln – zumal die von hinten nachdrängenden Artgenossen eine Umkehr unmöglich machen.
Dann ertrinken sie in Scharen und fallen Fischen, Möwen, Raben und Greifen zum Opfer. Aber auch die Überlebenden schaffen es nur ganz selten, sich irgendwo dauerhaft anzusiedeln. Die legendären Lemmingzüge sind also ein Paradebeispiel für sog. Totwandern.
Der Eisfuchs: ein hasenfüßiger Wanderer
Ein »Hasenfuß« ist der Eis- oder Polarfuchs keineswegs, wenn er Eisbären oder Wölfen folgt, um deren Beutereste zu vertilgen. Aber natürlich muss er vor ihnen auf der Hut sein. Der zweite Teil seines wissenschaftlichen Namens
Alopex lagopus
bedeutet »hasenfüßig«, da seine Sohlen mit Fell bedeckt sind, damit sie auf gefrorenem Boden, Schnee oder Eis nicht zu stark auskühlen. Er ist der einzige Hundeartige mit dieser Schutzvorrichtung.
© istockphoto.com/DmitryND
Mit seinem weißen Fell ist der Polarfuchs im Winter gut getarnt.
Der Nahrung hinterherziehen
Im langen Tundrawinter wird für alle die Nahrung knapp, aber kleine bis mittelgroße Raubtiere trifft es besonders hart: Alle Zugvögel sind verschwunden, die Nagetiere haben sich unter die dicke Schneedecke
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