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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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Gallen Schlange gestanden hatten, um die beste Qualität, die nur der Färber Gerig herzustellen vermochte, zu ergattern. Übrigens ein bunter Hund, der Färber Gerig, der das Leben von unten wie von oben kannte, Veteran des eidgenössischen Bürgerkriegs war, zweifacher Witwer, Landstreicher, Quacksalber und Gefängnisinsasse. Der sich die Mühe machte, sein Leben bis zur Lebensmitte aufzuzeichnen. Die losen Blätter hütete die Familie wie einen Goldschatz, schrieb der Färber Gerig nicht nur seine Lausbubengeschichten aus Wanderschaft, Wirtshausbesuchen und Militärdienst auf, sondern wartete mit den landauf, landab bekannten „Zehn Seligkeiten des Armen“ auf, die da zum Beispiel wären: Erstens muss der Arme nie ins Bad, er kommt eh immer vom Regen in die Traufe. Zweitens bekommt er kein Rheuma, das plagt nur die Reichen. Der Arme muss nicht befürchten, nach dem Tode Nachsteuer zu zahlen. Dem Armen schlägt der Blitz nicht in den Geldbeutel … Und abschließend: Übrigens ist es recht, dass die Reichen so viele Vorzüge haben, sonst wollten alle arm sein.
    Und kam Breiter derart ins Fabulieren, vergaß er die Welt für die Zeit seiner erfundenen Geschichten aus einem Leben, das er nie hatte.
    In diesen Momenten nestelte und bastelte er an seiner Biografie, schrieb ein paar Abschnitte oder gar ganze Kapitel um, strich unpassend gewordene Absätze, setzte da und dort eine Fußnote und erweiterte, wo es ihm passend schien. Und manchmal verlieh die Euphorie des Augenblicks seiner Fantasie Flügel und die Breiters aus dem Toggenburg erhielten einen Stammbaum, der in der kurzen Version bei Ulrich Bräker und in der langen bei Jost Bürgi endete.
    Vom Basler Bankierssohn, an dem er so lange gearbeitet und den er in jener verhängnisvollen Nacht unter dem Himmel von St. Moritz der üppigen Russin aufgetischt hatte, hatte er sich bereits während des Gesprächs mit Vittorio verabschiedet und war hier in Basel froh, dass er ihm nie begegnete. Da er seinen Toggenburger Dialekt sowieso nicht verbergen konnte, machte er sich auf, ein wenig über berühmte Toggenburger in Erfahrung zu bringen und wurde rasch fündig: der Söldner, Deserteur, Baumwollhändler und Schriftsteller Ulrich Bräker mit seinem „Armen Mann aus dem Tockenburg“ sowie der Hofastronom Jost Bürgi, der die Logarithmen entdeckt und die erste Uhr mit Sekundenzeiger konstruiert hatte. So kam er über den Färber Gerig, Bräker und Bürgi zu einem Familienstammbaum, der einiges hergab und bis ins 15. Jahrhundert reichte. Den Reformator Zwingli ließ er außen vor, hätte er mit dem doch ein wenig zu dick aufgetragen, und auf Dispute über Zwingli und seine Auslegung der Bibel wollte er sich bei Gott nicht einlassen.
    So wurde Charlotte weggedrängt und ihr Bild erschien erst wieder, als er im Wagen saß. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Windschutzscheibe, auf dem Armaturenbrett und in den Seitenspiegeln. Sie hatte ein wunderbares Kleid aus Wollseide an, die Farbe war ein perfektes 0,3% Erioechtcyaningrün G-, 0,015% Neutralbraun RX- und 0,01% Polargelb 2G conc.-türkis, vielleicht ein wenig zu sommerlich für die gegenwärtigen Temperaturen, die dunkelbraunen Haare waren plötzlich länger geworden und sie hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie lächelte verschmitzt, warf ihm eine Kusshand zu und verblich wieder in der leicht angelaufenen Frontscheibe.
    Derweil saß Rosie auf dem Nebensitz, und als er den ersten Gang einlegte, war ihm, als hätte er ihr entblößtes Knie gestreift. Obwohl, sie trug einen Wollmantel, mit 0,1% Erioanthracenrubin R, nicht zu verwechseln mit Erioanthracenrubin B, gefärbt, was ein ganz helles Rosa ergab, wie es in Basel für Knabenbabykleider traditionell gebraucht wurde, und war eher der Jahreszeit angepasst. Dass sie darunter nichts trug, war für ihn klar, und als sie gerade im Begriff war, die Beine übereinanderzuschlagen, verschwand sie, zuerst auf die Rückbank und schließlich durch die Heckscheibe.
    Aber beide tauchten immer wieder auf und verschwanden auch wieder. Und so fuhr er mit zwei Frauen im Kopf durch das Wiesental, durch die engen, von Tannen gesäumten Kurven, beschleunigte auf Geraden, die die Felder mit winterharten Erdschollen teilten und schlängelte sich durch Dörfer mit geschindelten Bauernhäusern und einförmigen Arbeiterbehausungen. Textilfabriken mit unzähligen eisernen Webstühlen, deren beständiges Rattern und Knallen bis auf die Straße drang, Färbereien, die der Wiese von

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