Polarrot
Schaf mehr haben könnte als der andere, wo sie wegschauen, wenn der Alkohol Männer in die Tobsucht treibt und verschlagene Frauen und Kinder zurücklässt, wo die Angst vor Fremden ein Wahn ist, obwohl es gar nichts Fremdes gibt. Nein, mein Lieber, ich geh weiter und zudem: diese Frau! Es wird kein Traum von ewiger Dauer sein, so viel ist mir klar, Willy, aber ich werde den Traum träumen.“
Willy griff zum Bier. Die Luft war rauchgeschwängert, die Debatten an den Tischen durch die Nachricht des tödlichen Attentats auf den Führer der schweizerischen Landesgruppe der NSDAP aufgeheizt. Manche prosteten sich auf den Toten von Davos zu, andere befürchteten die Vergeltung durch die Frontisten und wiederum andere sahen die Deutsche Wehrmacht bereits am nächsten Morgen die Schweizer Grenze überschreiten.
„Ich will mit ihr schlafen und ich werde mit ihr schlafen, Willy, dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt.“
„Du hast ja gar keine Erfahrung.“
„Auf alten Pfannen lernt man kochen“, prostete Breiter Willy Hebeisen zu.
„Du bist unmöglich. Jacques, sie ist die Frau eines Großindustriellen, der die Nazis mit Farbe für ihre Fahnen und Sonntagsanzüge beliefert. Meinst du wirklich, das kann gut ausgehen, wenn man sich mit diesem Pack einlässt? Weißt du eigentlich, dass die die Unsrigen einkerkern und auch umbringen? Was sie mit den Juden machen? Berufsverbote, Beamtenverbote, Einschüchterungen, keine Mischehen? Und du machst da mit und denkst wohl, dass du da ungeschoren davonkommst? Jacques, lass die Finger von der Frau. Es reicht schon, dass du den Nazis Farbe lieferst.“
„So, so, du weißt das alles. Du kennst das neue Deutschland wie deinen Hosensack. Klar, der Willy Hebeisen fährt ja jeden Tag dorthin, einmal in den Westen, dann in den Osten, kennt die Städte, kennt die Leute, weiß, was da los ist. Ich sag dir eines, ich hab das alles gesehen und weißt du was: Seit der Hitler da das Sagen hat, geht es den Leuten besser, man sieht das, man spürt das, da ist ein Aufbruch, die wissen, wo es langgeht.“
„Das weiß ich auch, dafür brauch ich nicht nach Deutschland.“
„Weißt du was, Willy, ich lass mir wegen so einem Scheißland doch nicht meine Träume nehmen, meine Liebe, meine Charlotte. Nein, nein, Willy, nicht mit mir.“
Breiter strich sich durch die Haare, nahm einen Schluck Bier, steckte sich eine Zigarette an.
Willy tat es ihm nach, lehnte sich nach hinten, drehte die Zigarette einmal am Aschenbecherrand, klopfte das Bisschen an bereits vorhandener Asche ab und sah Breiter lange an.
„Dich hat es aber schwer erwischt.“
„Ja. Und das lass ich mir nicht nehmen. Nicht von dir, von keinem Staat, von niemandem.“
„Ja, ja, ist ja gut.“
„Gar nichts ist gut. Du redest immer nur gegen mich.“
„Ich rede nicht gegen dich. Ich will dir nur ein wenig die Augen öffnen. Schau doch mal, woher sie kommt und von wo du kommst.“
Breiter schnellte nach vorn: „Genau das ist es, genau das! Alle sagen, wir müssen unten bleiben, hinter den Wänden der Salons, in den Zwischengängen, da oben hätten wir nichts zu suchen. Aber das stimmt nicht, man kann nach oben kommen. Der Hitler kommt sicher von unten, dein Lenin und dein Stalin wohl auch. Und die haben es alle geschafft.“
„Lenin nein, Stalin ja, trotzdem …“
„Nichts trotzdem. Schau Willy, wenn du ein Arbeiterleben führen willst, mit all dem Stolz, dem Kampf und was sonst noch dazugehört, dann ehrt dich das. Aber es ist nichts für mich, ich will das nicht, ich habe zu viel Hafer im Hintern!“
„Danke, ich hab verstanden. Aber trotzdem, auch du entkommst der Politik nicht.“
„Ich kümmere mich nicht um sie, also wird sie sich auch nicht um mich kümmern. So ist das bei mir.“
Willy schüttelte den Kopf, kratzte sich am Knöchel, betrachtete Breiter, der einen großen Schluck Bier nahm und zu ihm herübergrinste, schaute sich suchend um, verfolgte die Ausführungen und die in der Luft herumkurvenden Hände eines jungen Mannes am Nebentisch, der seinem Vis-à-vis erklärte, wie Pierre Musy in der Bobbahn von Riessersee Olympisches Gold gewonnen hatte, schaute dem wackelnden Hintern der Bedienung nach und beobachtete ein Pärchen, das in der hintersten Ecke verstohlene Küsse austauschte.
„Küsst sie gut?“
„Beeindruckend. So, wie sie ist.“
„Und du?“
Breiter schwieg.
„War wohl das erste Mal?“
„Willst du noch ein Bier?“
„Also das erste Mal. Wohl auch noch Jungfrau,
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