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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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Tannen dominierten Mischwald und endete an einem Aussichtspunkt, der den Blick über die Rheinebene auf den gegenüberliegenden Schwarzwald mit der unverkennbaren Schneekuppe des Belchen freigab. Im Süden erhoben sich der Schweizer Jura und dahinter die Alpen. Im Norden waren die Spitzen des Straßburger Münsters zu erkennen und wenn man mit genügend Fantasie den Rhein hinunterschipperte, taten sich auch die Weiten des Atlantiks auf.
    Sie waren alleine auf dem kleinen Plateau. Breiter wischte mit seinem Taschentuch den Tau von der Bank, die irgendjemand als Andenken an die Toten des 7. Gebirgsregiments, 1914–1918, gestiftet hat. Charlotte schmiegte sich an ihn und vergrub ihre kalten Hände zwischen seinen Oberschenkeln.
    Breiter konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben glücklicher gewesen zu sein.
    „So, mein Lieber, also wo schläft man sitzend, weil die Angst zu groß ist, auf dem Rücken vom Tod geholt zu werden?“
    „Im Toggenburg, aber das weißt du ja?“
    „Aber wie ist es?“
    „Eng. Links der Alpstein, rechts die Kurfirsten.“
    „Aber es macht tolle Menschen, wie man an dir sieht.“
    „Nur, wenn man früh genug gerettet wird.“
    „Ach, komm jetzt.“
    „Doch. Zum Beispiel vor einem Vater, der nur schlägt, vor einer Mutter, die nicht helfen kann und vor Dorfbewohnern, die alle gleichzeitig zu- und wegschauen und froh sind, dass es bei den Anderen zumindest gleich, wenn nicht noch schlimmer zu- und hergeht. Gerettet vor dem Geschmack von Schnaps und Ziegendreck, dem Neid derer, die noch weniger haben und den Ränken derer, die mehr haben. Den Prügeleien und Bescheißereien in den Familien und zwischen …“
    „Und wer hat dich gerettet?“
    „Der Pfarrer. Und eigentlich auch meine Mutter. Obwohl …“ Breiter suchte nach seinen Zigaretten, fand sie nicht gleich, worauf Charlotte welche aus ihrer Handtasche nahm, sich eine anzündete und sie ihm in den Mund steckte.
    „Obwohl?“
    Breiter nahm zwei hastige Züge, wollte ansetzen und sagte schließlich: „Komm, lassen wir das, vielleicht später einmal.“
    Charlotte steckte sich auch eine Zigarette an.
    „Und du?“, wollte Breiter wissen.
    „Mmmh, am meisten hasste ich das Internat – Töchterngymnasium! Wir wurden tagaus, tagein darauf hin erzogen, keine Frauen, sondern ewige Töchter zu bleiben: Tochter des Vaters, Tochter des Ehemanns, Tochter des Schwiegervaters, Tochter der eigenen Söhne. Nicht mal als Großmutter oder Urgroßmutter hätten wir das Zeitliche segnen dürfen, wir hätten als Tochter zu sterben gehabt.“
    „Und wer hat dich gerettet?“
    „Ich mich selbst. Und mein Onkel. Und letztlich meine Heirat, mein Mann.“
    „Dein Mann?“
    „Er ist mein bester Freund. Das war irgendwie von Anfang an klar.“
    „Ist er …“
    „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleicht auch nicht?“
    „Kann er …“
    „Mit mir nicht. Das war auch schnell klar. Irgendwie ist er wie ein älterer Bruder. Mädchen haben ältere Brüder gern.“
    „Und ältere Brüder Töchter?“
    „Ja, das ist halt ein Teil der Regel.“
    „Und der Andere?“
    „Außer Haus, außerhalb des Geschäfts, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.“
    „Und wenn nicht?“
    „Ich denke, es würde schnell gehen?“
    „Was?“
    „Weg, Scheidung, Klapsmühle, was weiß ich.“
    „Aber du hast doch selbst gesagt, wir bräuchten keine Angst zu haben, wir könnten ihm vertrauen?“
    „Ja, darum sind wir auch hier, darum fahren wir in dem klapprigen Opel nach Colmar, um uns zu lieben und darum hast du mich auch erst auf der anderen Seite der Grenze aufgeladen. So sind die Regeln, so kann es kein Aufsehen geben, so machen es viele in diesen Familien, so ist es richtig, so kann nichts aufs Geschäft abfärben.“
    „Aber wegen uns kann doch dem Geschäft nichts passieren?“
    „Wegen dir nicht. Da läuft ja alles wie geschmiert, du seist der Beste, sagt er immer. Aber wegen mir, auch wenn ich alle Regeln einhalte.“
    „Wieso denn?“
    Charlotte warf die Kippe fort und steckte sich gleich eine weitere Zigarette an. Sie zog den Rauch ein, stieß ihn heftig aus und sagte mit fester Stimme: „Ich bin Halbjüdin. Das wird irgendwann Probleme geben.“
    „So ein Mist, Charlotte, warum sollte das Probleme geben?“
    Sie schoss hoch, ging hinter die Bank, packte Breiters Kopf mit beiden Händen, drehte ihn Richtung Schwarzwald und schrie: „Jetzt mach mal endlich die Augen auf. Du fährst jeden Tag in dieses verdammte Land und

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