Polarrot
siehst und hörst nicht, was passiert. Jeden Tag steht da in der Zeitung, was die Juden für Schweine sind, dass sie die Welt beherrschen, dass sie nur das Schlechte für alle und im Speziellen für Deutschland wollen. Dass sie wegmüssen, besser gestern als heute, dass kein Deutscher und keine Deutsche sich mit ihnen einlassen, nicht bei ihnen einkaufen, keine Geschäfte mit ihnen betreiben dürfe. Dass sie weggehören aus allen Schulen, Universitäten, Spitälern und Ämtern. Und sie sind bereits weg und wer aufmuckt, kommt ganz weg. Hast du noch nie etwas von Konzentrationslagern gehört? Noch nie etwas vom ‚Verderben des deutschen Volkskörpers‘, von ‚auf der Flucht erschossen‘? Jacques, wo lebst du?“
„Ja, ja, ich weiß schon. Aber ich hab wenig davon gemerkt und es ist auch wieder besser geworden.“
„Du merkst es nicht? Du merkst es nicht? Was ist mit dem Cheflaboranten in der Zeller Fabrik? Wo ist der?“
„Stimmt, den habe ich schon lange nicht mehr gesehen?“
„Man hat ihm nahegelegt zu gehen, sofort, zu gefährlich für die Gugy, für die Familie meines Mannes, für das Geschäft mit Farbe, Fahnen und Uniformen. Er ist gegangen, mit der ganzen Familie, gleich nach England. Er war ein Cousin von mir.“
„Aber es ist doch nicht mehr so schlimm?“
„So schlimm? Ja, wegen der Olympiade. Die will der Heini sauber durchziehen, aber danach. Weißt du, was der dem Präsidenten der I. G.-Farben gesagt hat, als dieser ihn darauf hinwies, dass der Verlust jüdischer Intelligenz fatale Auswirkungen auf die deutsche chemische Industrie haben werde, weißt du, was der Hitler dem Bosch da gesagt hat? Dann werde halt die deutsche Wirtschaft für die nächsten hundert Jahre keine einzige Chemikalie mehr herstellen. Und er solle sich zum Teufel scheren, er verstehe keinen Deut von Politik.“
„Und?“
„Was und? Siehst du nicht, wie entschlossen der Hitler ist? Der wird bis zum Äußersten gehen, bis zum Äußersten.“
Breiter wusste nichts zu antworten, also nahm er ihre Hände, küsste jede auf die Innenfläche, holte Charlotte nach vorne und setzte sie wieder neben sich.
„Du bist ja in der Schweiz.“
„Ja, ich bin in der Schweiz, aber wenn der Tag kommt, wird er, wird die Familie mich opfern. Denn die ganze Gugy muss judenfrei sein, wer verzichtet schon wegen einer Halbjüdin auf Millionen.“
„Ja, und was soll ich jetzt tun? Soll ich jetzt aufhören? Soll ich …“
„Du sollst gar nichts, mein Lieber, wir sind jetzt hier, aber es wird nicht von Dauer sein, dass muss dir bewusst werden. Irgendwann werde ich gehen müssen. Mal sehen, welche Lösung sie für mich bereithalten.“
„Aber die werden doch nicht einfach …?“
„Wenn es das Geschäft erfordert! Und das wird es irgendwann erfordern, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“
Breiter stand auf, ging nach vorn, zum Geländer, dahinter fiel der Felsen steil ab, schaute nach Deutschland, schaute nach Mühlhausen, versuchte die Schornsteine von Basel auszumachen, die sich aber hinter einem milchigen Dunst verbargen. Er wollte dies alles nicht richtig glauben, und wenn, dann wollte er es nicht wissen, er wollte sich von der Zeit nichts zerstören lassen, nichts von dem, was er sich alles erarbeitet hatte, was ihm das bisschen Glück, das jedem zustand, brachte. Und er wollte noch mehr davon, das konnte doch nicht das Ende der Fahnenstange sein. Und zudem: Keine Suppe wird so heiß gegessen, wie sie gekocht wird.
Aber er wollte Charlotte unter keinen Umständen verlieren, also konnte er ihr auch nicht sagen, wie er darüber dachte. Liebte er sie wirklich, wenn er ihr nicht alles sagen wollte? Wenn seine Ziele keine Ehrlichkeit zuließen, und so der Entwicklung einer zukünftigen Bindung im Weg standen?
Breiter erschrak. So hatte er noch nie gedacht. Er dachte für zwei, für sich und Charlotte. Das musste Liebe sein. Er war sich jetzt ganz sicher. Er drehte sich um und sagte zu ihr: „Ich liebe dich.“
„Ja, bist du dir sicher?“
„Ja, ich weiß es jetzt.“
„Und warum weißt du es jetzt.“
„Weil ich zum ersten Mal in meinem Leben für zwei gedacht habe. Für dich und mich. Und wie es gut werden könnte.“
„Und wie könnte es gut werden?“
„Ich werde für dich da sein.“
„Das ist lieb.“
„Liebst du mich eigentlich auch?“
„Ja, jetzt, ja. Es macht mich frei, jetzt, es macht mich lebendig, aber das habe ich dir schon einmal gesagt.“
„Macht es dich glücklich? Ich war noch
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