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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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nie so glücklich.“
    „Ja, am meisten, wenn wir nicht darüber reden.“
    „Gehen wir zurück nach Colmar?“
    „Ja, gehen wir, langsam wird es kühl.“
    Breiter ging auf sie zu, hob sie hoch, sie schlang ihre Arme um seinen Hals, lachte und er trug sie ein Stück des Weges, wie man ein schlafendes Kind ins Zimmer oder eine Braut über die Schwelle trägt.
    „Warum sechsmal? Warum nicht einfach einmal?“
    „Es sind vierundzwanzig Barren. Würden sie Sie erwischen, verlöre ich nur vier und Sie würden auch nur mit vier Kilo Gold geschnappt.“
    Breiter lehnte sich in dem Fauteuil zurück, schaute Mayer in die Augen und sagte: „Bei sechs Fahrten ist das Risiko aber sechsmal höher.“
    „Mehr als ein halbes Kilo gebe ich nicht. Das ist eine enorm hohe Provision“, erwiderte Mayer energisch.
    „Soll ich ein Halbkilo abbeißen? Ich muss es wechseln und dann? Die Noten mit den anderen Barren vergraben?“
    „Die Schweizer haben auch halbe Kilobarren.“
    Breiter stand auf und ging ans Fenster. Das Bibliothekszimmer war mit schwerem, dunkelbraunem Holz ausgestattet. Klassiker wie Goethe, Schiller, Heine oder Novalis standen neben Namen wie Hesse, Tucholsky, Mann, die Breiter aber alle nicht kannte. In einem Regal war ein Kästchen mit Glasfenster und Schloss, in dem ein Schlüssel mit einer Kordel steckte, eingearbeitet. Hinter dem Glas befand sich Papier, das auf zwei Rollen aus Holz mit sorgfältig gearbeiteten Abschlüssen aufgerollt war. Thora, Talmud, Kabbala oder wie das hieß, vermutete Breiter. Das wilde, sehr farbige Bild an der gegenüberliegenden Wand sei von einem Nolde, wie ihm Mayer vor einer halben Stunde erklärt hatte. Aber das interessierte Breiter alles nicht, als er jetzt am Fenster stand und ins Wiesental schaute, ein wenig oberhalb von Schönau, das durch den grauen Schleier, den der Rauch der Fabrikschlote und der Kamine der Bauern- und Arbeiterhäuser bildete, nur schemenhaft zu erahnen war. Breiter interessierte nur, wie er aus diesem halben Handvoll Mann einen ganzen Barren herausschlagen konnte. Darunter würde er es nicht machen. Klar, es war null Risiko dabei, die Deutschen Grenzer kannten ihn, doch durch irgendeinen blöden Zufall könnte auch er geschnappt werden. Und dieser blöde Zufall müsste honoriert werden. Mit einem zusätzlichen halben Kilo. Letztlich wäre er erledigt, sollte er tatsächlich geschnappt werden. Ganz zu schweigen davon, dass es in deutschen Gefängnissen zurzeit eher ungemütlich zuging.
    Charlotte sollte eigentlich von seiner Feilscherei nichts mitbekommen. Er würde in ihren Augen besser dastehen. Aber dieser Isaak Mayer war doch ihr Onkel und sie würde sich sicher erkundigen. Nun gut, dann würde er ihr gegenüber genau gleich argumentieren wie gegenüber Mayer und das Risiko noch ein wenig dramatisieren.
    Bei ihrem dritten Treffen nach Colmar, am Ufer der Aare in Solothurn, hatte sie ihn das erste Mal gefragt, ob er helfen könne. Ihr Onkel, der eine mittelgroße Weberei bei Schönau besaß, die seit mehr als dreißig Jahren edle Bettwäsche herstellte, leide immer mehr unter den Schikanen und Boykotten der Nazis.
    Auf der Schaufensterfront des kleinen Fabrikladens stand eines Tages „Deutsche kauft nicht bei Juden“ geschrieben. Eine Fabrikarbeiterin, die das sah, versuchte die Schmiererei wegzuwaschen, wurde aber von ein paar Halbstarken daran gehindert und unter Schimpf und Schande mit Fußtritten weggejagt. Hinter seinem Rücken wurde mehr und mehr getuschelt und immer öfter fiel das Wort Judensau. Zuerst noch leise, fast unhörbar, nach und nach aber lauter und deutlicher. Schließlich bekam Mayer Besuch vom neuen Bürgermeister des Städtchens, einem ehemaligen Hausmeister einer Arbeitersiedlung, der ihm nahelegte, die Fabrik seinem Vetter zu verkaufen. Zu einem Preis jenseits jeglicher Realität, versteht sich. Als dann noch die Fassade zur Straßenseite seines Hauses mit Kot versaut wurde und in großen Lettern „Juda verrecke!“ unter einem Davidstern gepinselt stand, nahm er Kontakt zu Charlotte auf und bat sie einen Käufer zu suchen.
    Charlotte, die ihrem Mann und ihrer Familie nichts davon erzählte, fand einen entfernten niederländischen Verwandten aus der protestantischen Familie ihrer früh verstorbenen Mutter, der bereit war, die Fabrik über einen Deutschen Mittelsmann zu einem halbwegs anständigen Preis zu kaufen.
    Als dies dem Bürgermeister zu Ohren kam, wurden die Reifen von Mayers Auto zerstochen, sein Hund vergiftet,

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