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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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nachts die Scheiben der Küche mit Steinen eingeschlagen, und ein paar angetrunkene Halbwüchsige zertrampelten die Blumenbeete und schrien „Tod dem Juden, Tod dem Juden, Tod dem Juden“.
    Als am nächsten Morgen die Kleinen zur Schule gingen, vor seinem Haus stehen blieben und lauthals sangen: „Es war einmal ein Jüdele, das wusch am Bach sei Füdele, da kam ein Kanonenkügele; und weg war das Jüdele!“, wurde ihm vollends klar, dass man ihm keinerlei Respekt mehr entgegenbrachte. Er entschloss sich endgültig, Fabrik und Haus zu verkaufen, das Geld in die Schweiz zu bringen und auszuwandern.
    Trotz der Verwandtschaft zu Charlotte bekam er keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, worauf er sich an den potenziellen Käufer in Holland wandte, der eine Aufenthaltsbewilligung erwirken konnte.
    Sein Vermögen hatte er immer wieder in Gold eingetauscht, das Risiko, es selbst auszuführen, war ihm aber viel zu hoch. So wandte er sich abermals an Charlotte, die sich ihrerseits an Breiter wandte, der die Chance witterte, auf einen Schlag ein reicher Mann zu werden und ohne eine Sekunde zu zögern zusagte, den Goldtransport gegen entsprechende Bezahlung zu übernehmen.
    Und daher stand er jetzt am Fenster des kleinen Erkers, in dem ein lederner Fauteuil stand und sagte: „Gut, wenn Sie auf dem halben Kilo bestehen, dann müssen Sie sich jemanden Anderen suchen.“ Breiter drehte sich um und machte Anstalten zu gehen.
    „Herr Breiter, ein halbes Kilo ist ein sehr guter Preis. Das sind gegen 2.000 Franken, damit können Sie sich eine Menge kaufen.“
    „Hören Sie doch auf, ich weiß ganz genau, was ich und was ich mir nicht damit kaufen kann. Ein Pfund ist nicht mal drei Prozent Provision. Ein Kilo knapp über vier Prozent. Für das Risiko ein Schnäppchen. Ich müsste zehn Prozent verlangen, aber mein Anstand, Charlotte und Ihre Situation verbieten mir dies. Also anderthalb Kilo, übrigens wenig mehr als fünf Prozent, oder gar nicht.“
    Mayer hielt Breiter am Arm fest und bedeutete ihm sich hinzusetzen. Als dieser sich gesetzt hatte, nahm er seine Nickelbrille ab, legte sie auf das mit ornamentalen Einlegearbeiten geschmückte Tischchen, beugte sich nach vorn und sprach eindringlich und langsam auf Breiter ein: „Ich war an der Westfront, als blutjunger Mann, gleich hier gegenüber, am Hartmannsweilerkopf. Ein mit Stacheldrahtverhauen gespickter Korridor von knapp fünfzehn Metern trennte uns von den Franzosen. Von Zeit zu Zeit versuchten sie unsere Stellungen zu erobern, von Zeit zu Zeit wir ihre. Manchmal scheiterten sie, manchmal wir, manchmal waren wir erfolgreich, ein paar Wochen später sie. War gerade nichts los, musste man aufpassen, dass keiner einem die Spitze der Pickelhaube, die aus dem Schützengraben herauslugte, abschoss. Und vor jedem Angriff gab es Artillerie, Pfeifen, Pammm, Pfeifen, Pammm, man war weder vor den Granaten der eigenen noch vor denen der Anderen sicher. Und immer wieder schlich sich Gas durch die Gräben, in denen man wochenlang im knöcheltiefen Wasser und Schlamm stand, oder auf Eis, die Schuhe mit allem möglichen ausgestopft, da waren gefrorene Zehen an der Tagesordnung. Und eines Tages, an einem Donnerstag im Sommer 1917, es war ruhig, die Temperatur angenehm, die Gräben trocken, kam mein Vater, der in einer Versorgungstruppe bei Thann Dienst tat, herauf, sah mich Wache schieben und wollte mir einen Sack Pfirsiche bringen, hüpfte ein wenig auf den Brettern, vor Aufregung, da er mich schon lange nicht mehr gesehen hatte, auch ich war aufgeregt, bis ich im Augenwinkel bemerkte, wie ein Gewehrlauf aus dem eisernen Helm – das ist ein Einmann-Betonbunker mit Stahlhaube und Schießscharten – geschoben wurde, ich ‚Deckung Papa‘ schrie, den Knall hörte und sah, sah, Herr Breiter, wie die Kugel bei der einen Schläfe meines Vaters eindrang und bei der anderen wieder heraustrat. Er war sofort tot.“
    Mayer lehnte sich zurück im Sessel, räusperte sich und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.
    „Und was hat das mit dem Preis zu tun“, fragte Breiter ungeduldig.
    „Mit dem Preis? Mit dem Preis? Ich habe meinen Vater verloren, mein einziger Bruder starb in Verdun, ich stand nach dem Krieg vor unserer niedergekommenen Fabrik, ich habe alles wieder aufgebaut, über 150 Leute bekamen wieder Arbeit, und jetzt nimmt mir das Land, meine Heimat, für das ich zwei meiner besten Jahre, mein Vater und mein Bruder ihr Leben gegeben haben, wieder alles weg,

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