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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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geboren.“
    Sie stellte ihr Glas auf die Bank, setzte sich rittlings auf seinen Schoß, schaute sich rasch um, öffnete unter ihrem Rock seinen Hosenschlitz, schob ihr Höschen zur Seite, grabschte nach seinem Glied und führte es ein. Dann beugte sie sich nach vorn und flüsterte ihm ins Ohr: „Damit du dich immer daran erinnerst, was du hier kapiert hast.“
    „Das ist sie, die Maria im Strahlenmeer. Ist sie nicht schön?“
    Breiter ging ganz nahe an die Mutter-Gottes-Statue heran, schaute ihr ins Gesicht, betrachtete ihr hölzernes Antlitz, staunte über die Ohrringe – seit wann trägt Maria Ohrringe? – und meinte: „Schaut sie nicht ein wenig spöttisch? Oder ist es die Müdigkeit, allen Ansinnen gerecht zu werden?“
    „Spöttisch?“
    „Ja, schau mal, ihre Augen sind nur wenig geöffnet, beim rechten hängt das Lid leicht und die Pupille blickt mehr nach rechts als die linke.“
    „Vielleicht wurde das absichtlich so gemacht. So kann man ihren Blick nicht richtig fassen.“
    „Ja, wahrscheinlich. Die Wege des Herrn müssen unergründlich sein.“
    „Mein Vater ging gerne hierher. Er sagte immer: Sieh Charlotte, das machen die Katholiken einfach besser als alle Anderen. Sie geben den Menschen Menschen. Menschen, die einem helfen sollen in der Not, Heilige, Götter. Darum ist die katholische Kirche die erfolgreichste Firma der Weltgeschichte geworden. Logisch, wie will man auch erfolgreich sein mit einer Klagemauer oder einem Gebetsteppich. Und Mutter hat dann immer hinterher gesagt: Götzendiener sind’s, Götzendiener.“
    „Leben deine Eltern eigentlich immer noch im Wiesental?“
    „Mein Vater starb vor neun Jahren, meine Mutter verkaufte daraufhin alles.“
    „An deinen Onkel?“
    „Nein.“
    „An de Mijouter?“
    „Auch nicht. Das wollten wir nicht, auch mein Mann nicht. Nein, sie verkaufte es an einen Textilindustriellen aus Plauen. Der hatte eine Vorliebe für Textilwerke in Randgebieten, wie er immer sagte.“
    „Und dann?“
    „Zwei Jahre später war auch sie tot. Ausgerutscht in der ersten Emaille-Badewanne des oberen Wiesentals, wie mein Vater wohl anmerken würde.“
    „Kamen sie nicht gut miteinander aus?“
    „Doch, aber sie waren schon alt, als ich zur Welt kam. Meine Mutter hat mich erst mit zweiundvierzig bekommen, mein Vater war damals schon neunundvierzig. Irgendwie kamen sie mir immer wie Großeltern vor, bereits abgegriffen, aber sie waren zwei; zusammen, eingespielt, füreinander da. Mit viel Humor, vielleicht ein bisschen weise und bei Vater mit einem ausgeprägten Sarkasmus. Das Einzige, was auf sein Judentum schließen lassen könnte, pflegte er zu sagen.“
    „Warum wurde er Jude?“
    „Jacques“, sie verdrehte die Augen, „seine Mutter war Jüdin. Dann bist du es einfach – ein Leben lang.“
    „Nur die Mutter?“
    „Nur die Mutter.“
    „Aber dann bist du ja gar keine Jüdin.“
    „Halb. Aber ich bin gar nichts und werde nie was sein. Religionen bringen nur Verderben, Schuldgefühle, Böse und Gute, und der Böse ist immer der Andere. Hast du die Spießbürger gesehen, die wissen genau, was gut und falsch ist. Ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen. Niemand kann es wissen. Was heute gut ist, kann morgen schlecht sein. Weg, weg, weg mit dem ganzen Scheiß. Hast du zwanzig Rappen?“
    Breiter war erstaunt über ihren Ausbruch. Er kramte in seinen Taschen, fand ein 20-Rappen-Stück, gab es Charlotte, die es in den Opferstock neben der Maria warf.
    „Ja … aber …“
    „Ja aber! Komm jetzt, wir haben noch zu tun.“

1938 BIS 1949
    Als Jakob Breiter den mürrischen Zollbeamten am Badischen Bahnhof hinter sich gelassen hatte, setzte er sich erstmal auf seinen Koffer, steckte sich eine Zigarette an und war einfach froh, unendlich froh, wieder in der Schweiz zu sein. Froh, dieses gottverlassene Land zu verlassen, das er über Jahre kreuz und quer bereist, das er von Nord nach Süd, von Ost nach West in Polarrot und Säurechromblau getaucht hatte, in dessen Gaststuben und Speiselokalen er so viele Geschäftsabschlüsse gefeiert und das ihm letztlich seine Kässelis gefüllt hatte.
    Zwei Jahre hatte ihn dieses Land gedemütigt, geschlagen, misshandelt, zur Kreatur degradiert. Im Gefängnis herrschten noch gewisse Regeln des Anstands, aber im KZ, in Häftlingskleidung, gekennzeichnet mit dem grünen Kriminellen-Winkel, galten weder Gesetz noch Menschlichkeit.
    Seit jener Nacht im Ziegenstall war er sich niemals mehr so verlassen vorgekommen. Niemand

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