Polgara die Zauberin
Seite an Seite zügelten sie ihre Rösser und senkten zum Gruß ihre Lanzen vor mir.
So etwas kann einem Mädchen wirklich zu Kopf steigen, wenn sie sich nicht eisern beherrscht.
Meine ›Anweisung‹ war gebührend blumig, ich beendete sie aber ganz unblumig. »Ich will keine Verletzungen sehen!« befahl ich.
Ihre Gesichter drückten nach diesem Befehl die vorstellbar gegensätzlichsten Empfindungen aus. Graf Ontrose, der bei weitem besser Aussehende der beiden, legte den Ausdruck höflicher Verehrung an den Tag. Baron Lathan hingegen schien so von seinen Gefühlen überwältigt zu sein, daß seine Züge fast entgleisten. Als er mich ansah, standen ihm Tränen in den Augen.
Dann nahm das gerüstete Paar zum Klang eines letzten Fanfarenstoßes Aufstellung an den gegenüberliegenden Enden der Schranken, um gegeneinander anzureiten. Die ›Schranken‹ in einem normalen Turnier bestehen aus einem stabilen, hüfthohen Geländer, das wohl verhindern soll daß die Pferde sich während der Feierlichkeiten verletzen. Ein Waffengang ist ein wirklich einfaches Spiel. Jeder Ritter versucht, seinen Gegner mit einer stumpfen, zwanzig Fuß langen Lanze aus dem Sattel zu heben. Nicht selten kommt es zu einem Unentschieden, und im Fall, daß beide Ritter vom Pferd geworfen werden, stehen sie wieder auf, steigen erneut in den Sattel und versuchen noch einmal ihr Glück. Es ist eine lautstarke Angelegenheit, die dem örtlichen Knocheneinrichter gemeinhin eine Menge Verdienstmöglichkeiten eröffnet. Auf den traditionellen Signalhornruf hin klappten sie beide ihr Visier herunter, senkten die Lanzen und griffen an, die Hufe ihrer Streitrosse donnerten auf dem festen Grund, als sie zwischen den Schranken aufeinander zu galoppierten. Ihre Lanzen trafen beide auf stabile Schilde, und wie gewöhnlich splitterten beide Lanzen, so daß die Holzteilchen durch die Luft flogen. Das Lanzenstechen auf einem offiziellen Turnier kann den Baumbestand in den umliegenden Wäldern arg dezimieren.
Beide rissen ihre Pferde herum und ritten an die Ausgangspositionen zurück.
Ontrose lachte fröhlich, aber Lathan funkelte seinen Freund mit kampflüsternem Blick an. Baron Lathan unterlag hier offensichtlich einem Mißverständnis. Ein Waffengang soll ein sportliches Kräftemessen sein, kein Zweikampf auf Leben und Tod. Bei den vorangegangenen Turnieren war mir der Ausgang stets relativ gleichgültig gewesen, aber diesmal war es irgendwie anders. Meine ›ritterlichen Beschützer‹ in der Vergangenheit hatten keine überragende Rolle in meinem Leben gespielt. Sie waren nie mehr als eine Art Beiwerk meines gesellschaftlichen Ranges gewesen. Diesmal beschlich mich ein ungutes Gefühl, daß Baron Lathan, sollte er den Sieg davontragen, mir später einmal Schwierigkeiten bereiten könnte. In der arendischen Literatur wimmelt es förmlich von Unschicklichkeiten, in die hochgeborene Damen und ihre Leibwächter verwickelt waren, und Lathan schien wohlbelesen zu sein. Sollte er zufällig gewinnen, würde das gewiß Probleme heraufbeschwören. Meine Unparteilichkeit begann ein wenig zu bröckeln.
Der zweite Lanzengang brachte ebensowenig eine Entscheidung herbei wie der erste, und als die Kontrahenten zum dritten Stechen auf ihre Plätze zurückritten, deutete Lathans Miene von unverhüllter Feindseligkeit.
Das ging zu weit, und an diesem Punkt entschloß ich mich, ›Schritte zu unternehmen‹.
»Nein, Pol«, sagte Mutters Stimme leise. »Halt dich da raus.«
»Aber –«
»Tu, was ich dir sage!« Mutter benutzte diesen Tonfall fast nie, und daher war ihr meine sofortige Aufmerksamkeit sicher. Ich ließ meinen angestauten Willen wieder frei.
»Schon besser«, sagte sie.
Wie sich herausstellte, hatte Ontrose meine Hilfe gar nicht nötig. Baron Lathan war anscheinend so aufgebracht daß ihn seine Geschicklichkeit beim dritten Lanzengang verließ. Er schien so begierig auf die Vernichtung seines Gegners zu sein, daß er vergaß, seinen Schild richtig zu halten, und Graf Ontrose hob ihn mit seiner langen Lanze fein säuberlich aus dem Sattel und schleuderte ihn mit lautem Krach zu Boden.
»Nein!« heulte der gestürzte Ritter auf, und seine Stimme war voll von Wehklagen und Bedauern und unaussprechlichem Verlust.
Graf Ontrose riß scharf an den Zügeln seines Reittiers, schwang sich aus dem Sattel und lief zu seinem Freund. »Seit Ihr verletzt?« fragte er, während er sich neben Lathan hinkniete. »Habe ich Euch ein Leids getan?«
Ich mißachtete Mutters Befehl
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