Polivka hat einen Traum (German Edition)
vorderen Teil des Wagens ist der Mann vom Bahnsteig zu sehen. Er steht von der Kamera abgewandt und ein wenig zur Seite geneigt, sodass sein Kopf von einem der Sitze verdeckt wird. Man kann nicht gleich erkennen, was er tut; nach einigen Sekunden aber macht er einen Schritt nach hinten und richtet sich auf. In seinen Armen hängt der schlaffe Körper eines anderen Mannes.
«Hervé!», keucht Jacques, so leise, dass die Stimme kaum die Zuggeräusche übertönt.
«Er ist es», flüstert auch Sophie.
Der Schädel des leblosen Mannes schlenkert hin und her, als Hervé ihn unter den Achseln fasst und zum vorderen Waggonende schleift. Dort angelangt, wuchtet Hervé ihn mühevoll hoch, packt mit der Rechten seinen Kopf und zieht ihn an den Haaren nach hinten. Dann rammt er das Gesicht des Mannes gegen den Türrahmen.
«Mon dieu!» Diesmal ist Jacques’ Ausruf laut zu hören: ein Brüllen, das nach vorn durch den Waggon hallt.
Hervé lässt den Toten zu Boden gleiten und wendet sich um. Für einen Moment wirkt er ratlos, doch im nächsten Augenblick setzt er sich in Bewegung und eilt auf die Kamera zu. Das Bild verwischt.
Jacques dreht sich um und hastet los. Er läuft, so rasch er kann, dem Ende des Zugs entgegen. Jacques Guillemain läuft um sein Leben. Zwei Waggons hat er schon hinter sich gebracht, als plötzlich das Kreischen der Bremsen ertönt. Ein harter Stoß – Jacques taumelt, fällt nach hinten, landet auf dem Rücken. Die Gepäckablagen und das Dach des Wagens sind zu sehen, danach nur noch ein weißes Flimmern: Der Film ist zu Ende.
Sekundenlang herrscht beklommenes Schweigen. Sophie sitzt reglos vor dem Bildschirm, ihr Gesicht ist schmal und blass. Als Polivka sich vorbeugt, um die Speicherkarte aus dem Leser zu entfernen, löst sie sich aus ihrer Starre.
«Warum?», fragt sie heiser.
Polivka zuckt die Achseln. «Wenigstens ist mir jetzt klar, warum sich jemand nicht mit seinen Händen abfängt, wenn er stürzt: Weil ihm schon vorher das Genick gebrochen wurde.»
«Aber warum?»
«Ich weiß es nicht. Zumindest nicht bei den zwei Opfern von Madrid und Wien, die vermutlich willkürlich ausgewählt wurden. Ihr Mann – also Ihr Exmann – war die Ausnahme. Er musste deshalb sterben.» Polivka hält die Speicherkarte hoch. «Wir müssen dieses Video so rasch wie möglich den Behörden geben. Ich frage mich ohnehin schon, wo die Polizei so lange bleibt.»
«Die Polizei?»
«Nach dem tätlichen Angriff auf Hammel muss das Krankenhaus sie doch verständigt haben.»
Sophie sieht Polivka an. «Ich habe bei unserer Ankunft erzählt, dass es ein Arbeitsunfall war. Ihr Kollege ist bei … einer Probe in den Orchestergraben gestürzt. Wir hatten doch den Geigenkoffer, und da dachte ich …»
«In den Orchestergraben?»
«Ja. Direkt auf einen Mikrophonständer.»
«Und wir sind …»
«Musiker. Gastkünstler der Straßburger Philharmonie, um ganz genau zu sein.»
Diese Frau ist tatsächlich mit allen Wassern gewaschen. Polivka ringt um Worte. «Aber … wieso denn?», stößt er hervor.
«Weil ich mich selbst um meinen Bruder kümmern werde. Wahnsinnig geworden ist er sicher nicht, und deshalb will ich wissen, wer ihn zu dem Wahnsinn angestiftet hat.»
«Verstehe, Madame Guillemain; Sie haben natürlich recht. Wenn irgendwer die Qualifikation hat, es mit einem Massenmörder aufzunehmen, dann kein anderer als Sie. Man ist ja schließlich hocherfahren in kriminalistischen Belangen.»
«Ist man auch, Herr Kommissar», erwidert Sophie mit hintergründigem Lächeln.
[zur Inhaltsübersicht]
Teil 2
Brüssel
12
«Gott sei Dank, du bist am Leben! Seit gestern hab ich kein Auge mehr zugemacht!»
Die Worte sind zwar schwer zu hören, aber leicht verständlich. Wer den Text schon kennt, der braucht keinen Souffleur.
«Dass du dich überhaupt noch einmal meldest. Nach zwei Tagen! Wenn dir Gott behüte was passiert wär, tät ich es ja nie erfahren. Aber das ist mein Problem, ich weiß. Für dich wär sowieso alles viel leichter, wenn ich schon …»
«Es ist mir was passiert», sagt Polivka.
Für einen Augenblick herrscht Stille; man kann nur den Fahrtwind und das Schnurren der déesse vernehmen. Polivkas eigenwillige Textabweichung unterminiert den geregelten Ablauf einer tausendmal durchspielten Szene.
«Was hast du gesagt? Ich versteh dich so schlecht.»
«Dass mir tatsächlich was passiert ist.»
«Mein Gott! Ich hab immer schon gesagt, du sollst dir eine andere Arbeit suchen, aber bitte, wer
Weitere Kostenlose Bücher