Polivka hat einen Traum (German Edition)
hört schon auf mich? Ich bin ja doch nur eine Last …»
«Ich brauche dich. Ich brauche deine Hilfe.»
Ein geradezu unglaubliches Extempore, das Polivka da in den Hörer zaubert. Er tut es zum einen, weil es der Wahrheit entspricht, zum anderen, weil er gerade so frohgemut ist.
Um drei Uhr früh hat er erfahren, dass Hammel überleben wird. Der Dienst habende Arzt der Unfallchirurgie hat die Nachricht persönlich überbracht. Sophie hat lange mit dem Mann geredet, und noch ehe sie daranging, das Gespräch für Polivka zu übersetzen, konnte er ihrem erleichterten Tonfall entnehmen, dass Hammel mit einem blauen Auge davongekommen war. Oder besser: mit einem verlorenen Auge, wie es Polivka ja schon vorhergesehen hatte. Aber was ist schon ein Apfel gegen einen ganzen Baum, was eine Linse gegen eine ganze Pflanze, eine Hornhaut gegen einen ganzen Hammel?
Seine Augenhöhlenknochen jedenfalls sind wieder so weit hergestellt, dass er – mit einem formgerechten Glasauge – bald wieder aussehen wird wie vorher. Was ja, wie der Arzt nicht müde wurde zu betonen, gerade für einen gefeierten Musiker wichtig sei, der hauptberuflich auf der Bühne stehe. Er selbst, so der Chirurg, sei ein großer Verehrer der Straßburger Philharmonie, weshalb ihm Hammels Wohlergehen auch privat am Herzen liege.
Nachdem Sophie ihm Karten für eines der nächsten Konzerte versprochen hatte, gestattete er Polivka und ihr – ausnahmsweise! – einen kurzen Besuch an Hammels Krankenbett.
Es war kaum mehr als die Besichtigung einer ägyptischen Mumie: Weder war Hammel bei Bewusstsein, noch konnte man viel von ihm sehen. Bandagiert und scheinbar leblos lag er da, bei näherer Betrachtung aber hob und senkte sich sein Brustkorb unter der Decke.
«Denken Sie, dass wir ihn einige Tage allein lassen können?», fragte Sophie mit dem Zweifel des schlechten Gewissens.
«Sobald er die Schwestern reden hört», gab Polivka zurück, «wird er hier gar nicht mehr wegwollen. Er ist völlig aufs Französische fixiert.»
Da zog Sophie Jacques’ Spieluhr aus der Jackentasche, um sie Hammel in die schlaffe Hand zu drücken. «Hat er vielleicht Angehörige in Wien, die man benachrichtigen sollte?»
«Ehrlich gesagt, ich … habe keine Ahnung. Aber wenn er aufwacht, kann sich ja die Klinik darum kümmern.»
«Und wenn nicht? Ich meine, wenn er keinen Menschen hat? Wenn niemand nach Paris kommt, um nach ihm zu sehen?»
«Ich brauche deine Hilfe. Eine heikle berufliche Angelegenheit, zu heikel für das Sicherheitsbüro.»
Polivkas Mutter schnappt hörbar nach Luft.
«Es geht um einen verletzten Kollegen, Hammel heißt er, vielleicht hab ich dir schon irgendwann von ihm erzählt.»
«Du erzählst mir doch nie etwas», dringt jetzt die Stimme der Mutter aus dem Hörer. Vorsicht, denkt Polivka: Wer neue Wege gehen will, der soll auch neue Schuhe anziehen. Wieder so ein Spruch, den er von Doktor Singh gelernt hat.
«Weißt du, dieser Hammel ist gerade um ein Haar dem Tod entronnen, und jetzt liegt er hier im Krankenhaus. Allein. Der Arme hat ja niemanden …»
«Als ob ich das nicht kennen würde.»
«Eben. Er ist fast so arm wie du. Und weil ich mich gerade nicht um ihn kümmern kann …»
«Als ob das etwas Neues wäre.»
«Brauche ich jemanden, der ihn besucht und auf ihn aufpasst, jemanden, der zuverlässig, taktvoll und verschwiegen ist. Da hab ich mir gedacht …»
«Du weißt doch, ich bin immer für dich da.»
«Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das erleichtert. Danke, das ist wirklich sehr, sehr lieb von dir.»
Am anderen Ende der Leitung bleibt es still – die neue Taktik des devoten Gleichmuts scheint tatsächlich Früchte zu tragen.
Gegen vier Uhr morgens haben sich Sophie und Polivka in die déesse gesetzt und sind nach Amiens gefahren, in die Stadt der beiden Juliusse, wie Sophie schmunzelnd bemerkte: zum einen Julius Caesar, der das gallische Konzil dort einberief, zum anderen Jules Verne, der seine zweite Lebenshälfte dort verbrachte. «Es ist flach da oben», hat Sophie gesagt, «sehr flach, sehr grün, sehr feucht und voller Mücken.» Polivka hat zwar versucht, sich interessiert zu zeigen, aber noch bevor sie die Pariser Stadtgrenze passiert hatten, war er schon eingeschlafen. Träumend schwebte er durch die französische Finsternis.
Sophie bewohnte die Mansarde eines Backsteinhauses direkt an der Somme. Das winzige Appartement hatte sie günstig gemietet, wobei günstig bedeutete, dass sie im Monat vierhundert Euro
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