Polivka hat einen Traum (German Edition)
zeigt auf das Gehäuse der Violine, an dem – von den Saiten gehalten – der abgebrochene Geigenhals baumelt. Vorne, an der Bruchstelle, kann Polivka das Ende einer Schnur erkennen, die im Hohlraum steckt. Sophie zieht vorsichtig daran, und lautlos gleitet eine schmale, längliche Kassette aus dem Korpus.
«Sehen wir nach, was in der Büchse der Pandora steckt …»
In Watte gebettet liegen die Kleinodien Jacques Guillemains. Sophie zupft sie – eins nach dem anderen – hervor und legt sie in Polivkas Hände. Es sind:
1. ein auf Briefmarkengröße zusammengefalteter Zettel, der sich bei näherer Betrachtung als Kopie der Rechnung herausstellt, die Jacques für seine erste selbst gebaute Geige geschrieben hat,
2. eine Spieldose aus Ebenholz, aus der, wenn man den Deckel hebt, die Marseillaise erklingt,
3. ein Stück tiefschwarzes Haschisch,
4. zwei kleine Diamanten, deren Echtheit Sophie nicht bestätigen und Polivka nicht feststellen kann, und
5. eine elektronische Speicherkarte.
«Die ist aus seiner Kamera», sagt Sophie.
«Dann war die Kamera wahrscheinlich in dem Plastiksack, den das Ar- … den Ihr Bruder mitgenommen hat», erwidert Polivka.
«Wir brauchen einen Computer.»
«Ja. Es wird sich also nicht vermeiden lassen, mit dem Personal hier Freundlichkeiten auszutauschen.»
Zehn Minuten später sitzen sie in einem Nebenraum des Schwesternzimmers, der mit einem PC ausgestattet ist. Ein junger, etwas untersetzter Krankenpfleger hat sie hier hereingelassen, nachdem Sophie ihm in den Weg getreten war, um Freundlichkeiten mit ihm auszutauschen. Der Unterhaltung der beiden ist Polivka mit wachsendem Unmut gefolgt; zwar konnte er den Inhalt des Gesprächs nicht nachvollziehen, aber dafür umso besser dessen Form. Ein Lächeln hier, ein Zwinkern da: wie ein Schmetterlingstanz im feuchtwarmen Dschungel der Kupidität. Bevor der Pfleger aus dem Raum gegangen ist, hat er noch etwas zu Sophie gesagt, das Polivka sich – rein phonetisch – merken konnte.
«Was bedeutet das, Madame Guillemain: ‹Des yeux d’ambre›?», fragt er mit belegter Stimme.
«Bernsteinaugen», gibt Sophie zurück und schiebt die Speicherkarte in den Rechner.
Die erste, offenbar im Morgengrauen gedrehte Einstellung zeigt Kopf und Schultern eines Mannes, der die Kamera zwar selbst – mit ausgestrecktem Arm – auf sich gerichtet hält, der aber vorgibt, nicht zu merken, dass ihn jemand filmt. Er blickt zur Seite, heuchelt Interesse an dem pittoresken, bahnhofsartigen Gebäude, dessen Ausläufer von rechts ins Bild ragen, dreht sich dann scheinbar ahnungslos zur Kamera, entdeckt den Apparat und reißt erschrocken seinen freien Arm hoch. «Pas encore ces paparazzis!», brüllt er mit gespielter Wut. Die Hand zur Faust geballt, schlägt er in Richtung Objektiv. Zugleich verwischt die Aufnahme, man sieht in rascher Folge Teile des Gebäudes, des Asphalts, des dunkelroten Himmels, hört das Scharren von Füßen, kurze, spitze Schreie, Kampfgeräusche. Nach ein paar Sekunden aber schiebt sich wieder das Gesicht des Mannes ins Bild. Ein schelmisches Grinsen. «Au revoir, Toledo!», ruft er pathetisch und schaltet die Kamera ab.
«Er war nun einmal ein verspielter Mensch», bemerkt Sophie wie zur Entschuldigung.
Der Bahnhof von Toledo, innen. Verwackelte Aufnahmen maurischer Rundbögen und Arabesken. Jacques hat seine Kamera jetzt um den Hals gehängt, man sieht ihn nicht, man sieht nur, was auch er zu sehen bekommt. Eine fast menschenleere Bahnhofshalle, blaue Absperrbänder, die – am Förderband eines Gepäckscanners vorbei – zu den Bahnsteigen führen.
Schnitt.
Bahnsteig Toledo, außen. In der Morgendämmerung geht Jacques an einem Zug entlang, bleibt aber plötzlich stehen. Ein Ruck an der Kamera: Jacques betätigt den Zoom. Der Bildausschnitt vergrößert sich, er zeigt einen Mann, der eben dabei ist, den ersten Waggon zu besteigen. «Hervé?», ist Jacques’ Stimme zu hören. Und dann, etwas lauter: «C’est toi, Hervé?»
Doch der Mann reagiert nicht. Schon ist er im Zug verschwunden.
Schnitt.
Großraumwaggon innen. Der Zug ist bereits losgefahren. An den Fenstern zieht die Ebene Kastiliens vorbei. Jacques geht in Fahrtrichtung; er nähert sich dem Ende des Waggons. Seine Hand erscheint im Bild, schiebt eine Tür auf. Er ist nun im Wagenübergang; man hört das Dröhnen der Räder auf den Gleisen. Jacques öffnet – einen Spaltbreit – die Verbindungstür zum nächsten Wagen und bleibt unvermittelt stehen.
Im
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