Polivka hat einen Traum (German Edition)
Hervé ging. Dass er ihm durch Zufall in der Nähe von Madrid begegnet sei und etwas Schreckliches mit angesehen habe. So hat er es ausgedrückt. Und dann hat er ins Telefon gebrüllt: ‹Dein Bruder ist ein Irrer, hörst du? Ein verrückter Mörder!›
Damals machte ich meinen zweiten großen Fehler: Ich fragte Jacques, was er getrunken oder welche anderen Drogen er genommen habe. Er hat nicht geantwortet. Er hat nur in den Hörer geschwiegen und nach einer Weile aufgelegt.
Natürlich habe ich sofort zurückgerufen, aber sein Handy war ausgeschaltet. Auch an den folgenden Tagen konnte ich ihn nicht erreichen, es sprang immer nur die Mailbox an.
Fünf Tage später war er tot.
Ich hatte zwar von diesem Unfall in der spanischen Bahn gelesen, aber keinen Zusammenhang mit dem seltsamen Telefonat hergestellt. Als dann das Unglück bei Chambly passierte, bei dem Jacques den Tod fand, war ich völlig … Nein, schockiert ist untertrieben; ich war wie gelähmt. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er schon wieder hier in Frankreich war, und jetzt … jetzt konnte ich an nichts mehr anderes denken als an seinen letzten Satz: ‹Dein Bruder ist ein Irrer, hörst du? Ein verrückter Mörder!›
Letzte Woche wurde Jacques begraben, und Hervé kam selbstverständlich auch zur Trauerfeier. Er umarmte mich und meinte, dass er all das immer noch nicht fassen könne, dass wir beide unseren besten Freund verloren hätten und so weiter – was man halt so sagt zur Exfrau eines Toten. Ich fragte ihn daraufhin, wann er Jacques zum letzten Mal gesehen habe, und er gab zurück, das sei nun schon mehrere Monate her. Ich konnte nichts Verdächtiges an seiner Antwort finden. Bis er mir die Gegenfrage stellte: ‹Und du? Hast du in letzter Zeit Kontakt mit ihm gehabt?›
Wir sind nicht nur Geschwister, sondern Zwillinge, verstehen Sie? Wenn man schon im Mutterbauch rund um die Uhr das Herz des anderen schlagen hört, schärft das die Sinne, selbst für die feinsten Nuancen, da liest man von Anfang an zwischen den Zeilen. Ich spürte sofort, was zwischen Hervés so belanglosen Worten stand, nämlich nichts anderes als die Frage, ob mir Jacques etwas erzählt habe, das ich nicht wissen durfte. Und mein Bruder wieder spürte, wie die wahre Antwort lautete, obwohl ich vorgab, schon seit Ostern nichts von Jacques gehört zu haben.
Trotzdem wahrten wir den Schein. Nach dem Begräbnis gingen wir in ein Café und plauderten so unbefangen, wie es eben möglich war. Nach einer Weile bat Hervé mich, ihn beizeiten in Jacques’ Haus zu lassen. Er wolle sich noch einmal umsehen und, sofern ich nichts dagegen hätte, irgendeine Kleinigkeit als Souvenir mitnehmen, als Erinnerungsstück an den Verstorbenen. In Ordnung, sagte ich, wir machen das demnächst.
Es war ein warmer Tag, wir hatten unsere Jacken auf die Stuhllehnen gehängt. Und als Hervé auf die Toilette ging, da konnte ich nicht anders: Ich durchsuchte sein Sakko. In einer Innentasche stieß ich auf ein Flugticket. Nach Wien.
Am Mittwochabend bin ich in den Zug gestiegen, und vorgestern habe ich Hervé am Flughafen Wien-Schwechat erwartet. Ich hatte einen kleinen, unauffälligen Wagen gemietet, mit dem ich mich an seine Fersen heftete. Für ihn stand vor dem Terminal ein Motorrad bereit, eine kräftige Maschine, mit der er mich im Handumdrehen abhängen hätte können. Doch er hielt sich – all meinen Befürchtungen zum Trotz – penibel an die Vorschriften. Alleine das war schon verdächtig.
Hervé durchquerte Wien und parkte im neunten Bezirk, am Liechtenwerderplatz – Sie wissen ja, der Platz liegt oberhalb der Bahngleise, genau zwischen der Spittelau und dem Franz-Josefs-Bahnhof. Er verstaute also seinen Helm und stieg dann in ein Taxi um, das ihn nach Klosterneuburg führte. Dort – gleich vis-à-vis vom Bahnhof – nahm er sich in einer schäbigen Pension ein Zimmer.
Ich verbrachte diese Nacht im Wagen, müde, hungrig und von Angst geplagt. Im ersten Morgengrauen, gestern um halb fünf, kam Hervé aus dem Haus. Er ging über die Straße und verschwand im Bahnhofsgebäude.
Es war an der Zeit, die Deckung zu verlassen. Ich folgte ihm also zu Fuß, so vorsichtig ich konnte, und versteckte mich in einer Ecke des Warteraums. Erst als der Zug nach Wien schon eingefahren war, lief ich hinaus auf den Bahnsteig; es gelang mir gerade noch, in einen der Waggons zu klettern.
Hervé erwartete mich schon.
Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, aber ehe ich noch etwas sagen oder tun
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