Polivka hat einen Traum (German Edition)
überhaupt, erst dann die Fragen.
Nein, entscheidet Polivka, es muss noch andere Möglichkeiten geben, und seien die Chancen auch noch so gering. Er zieht das Telefon aus seiner Jacke, lässt es unauffällig auf den Boden gleiten, schiebt es dann, so weit es geht, mit seinem rechten Fuß unter den Sitz. Sophie, die sich von ihrem ersten Schreck erholt hat, dreht sich nach dem Audi um.
Der schwarze Wagen hat am Straßenrand gehalten; als der Bus nun die Station verlässt, setzt auch er sich wieder in Bewegung.
«Sie warten, bis wir rauskommen», sagt Polivka. «Sie wollen das Aufsehen vermeiden.»
Eine Handvoll Menschen ist am Place Général Meiser zugestiegen: ein älterer Mann mit Stock und Hut, ein Jugendlicher, dessen weite Jeans nur knapp über den Kniekehlen hängen, zwei muslimische, in lange weiße Khimars eingehüllte Frauen und ein untersetzter, glatt rasierter Mann im himmelblauen Overall, der ächzend einen großen Kunststoffsack auf einen der Sitze wuchtet. Er ist es, der Polivka aufmerken lässt.
«Der Zettel da …» Verstohlen deutet Polivka auf ein Papierschildchen, das an der Kante der Tragtasche angeheftet ist. In nüchternen blauen Lettern gedruckt, ist hier der Schriftzug Blanchisserie Blanchard zu lesen, darunter eine mit Filzstift geschriebene Zustelladresse. « Le Nid d’amour de Mimi », flüstert Polivka, «was heißt das?»
« Mimis Liebesnest . Wahrscheinlich ein Puff oder Stundenhotel.»
«Und Blanchisserie Blanchard ?»
« Blanchisserie heißt Wäscherei …» Sophie verstummt mit offenem Mund. Auf einmal leuchten ihre Bernsteinaugen auf. Sie hat verstanden.
Die Busstation Avenue de l’Optimisme ist die vorletzte der Linie 63. An der nordöstlichen Brüsseler Peripherie gelegen, macht sie ihrem Namen alle Ehre: Wer hier aussteigt, ist noch nicht am Friedhof, sondern im verdinglichten sozialen Fegefeuer, das ja immer phantasierte Hoffnung mit faktischer Verelendung vereint. Inmitten trostlos flacher, lieblos angelegter Grünflächen ragen Plattenbauten in den Himmel, hoch genug, um nicht nur freie Sicht auf den städtischen Totenacker zu bieten, sondern auch auf den dahinterliegenden gewaltigen Komplex des NATO-Hauptquartiers. Der Optimismus drängt sich den Bewohnern dieser Häuser förmlich auf.
Es sind nur zwei Personen, die an der Station den Bus verlassen: zwei in weiße Tücher eingehüllte Frauen, offensichtlich jene beiden, die am Place Général Meiser eingestiegen sind. Wahrscheinlich Marokkanerinnen, die mit einem arbeitslosen Mann und vierzehn Kindern in einem der Wohnsilos leben. Sie gehen gemächlich die Straße entlang. Der Bus fährt wieder an, er überholt die Frauen und braust davon. Der schwarze Audi folgt ihm Richtung Friedhof.
16
«Haben Sie noch Kleingeld?», fragt Polivka, als er endlich eine desolate Telefonzelle am Straßenrand entdeckt. Seine eigenen Taschen sind leer, nachdem Sophie dem Wäschereiangestellten zwei Leintücher abgeschwatzt hat – schöne große Laken für die Doppelbetten von Mimis Liebesnest , glücklicherweise frisch gewaschen und perfekt geeignet, um sich damit zu vermummen. Zweihundertachtundvierzig Euro haben sie Polivka gekostet – ein Betrag, der nicht zu hoch gegriffen war, weil letztlich alle etwas von dem Handel hatten: Sophie und er ihr Leben, der Mann ein volles Portemonnaie und einen halb so schweren Plastiksack. Seine Ankunft im Liebesnest wird sich wohl eine halbe Stunde verzögern, wird ihn sein Weg doch zuvor noch in die Avenue Platon führen, um dort beim Textildiscounter zwei fabrikneue Laken zu erstehen: sechsunddreißig Euro, echte chinesische Ware. Falls Madame Mimi es überhaupt bemerken sollte, wird sie sich wohl kaum darüber echauffieren.
Sophie schenkt Polivka ein fragendes Lächeln, während sie einige Münzen aus ihrer Hosentasche kramt. «In Frankreich», sagt sie, «gibt es zwei gängige Arten, einander das Du anzubieten: Man trinkt miteinander – oder man küsst sich.»
«Das ist … in Österreich nicht anders», murmelt Polivka verlegen.
«Umso besser. Wir haben beides getan. Also …» Sie streckt ihm förmlich ihre Hand entgegen. «Ich heiße Sophie.»
Polivka zögert. «Ich … bin der …»
«Ja?»
Ein tiefes Seufzen. «Es tut mir leid», sagt Polivka. «Ich würde Ihnen gern … Ich meine, dir … Aber mein Name ist …»
«So schlimm?»
Polivka nickt. «So schlimm. Ich frage mich oft, was meine Mutter sich dabei gedacht hat. Und wie mein Vater das zulassen konnte.»
Nachdenkliches
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