Polivka hat einen Traum (German Edition)
auch ein bewaffneter, gewissermaßen paramilitärischer Verband. Das ist ja das Entzückende an der gesteigerten Privatisierung unserer Gesellschaft: Die Gewaltmonopole der Staaten sind Vergangenheit, und jeder darf sich offiziell ein paar Soldaten kaufen – falls er sich das leisten kann. Gelebte Demokratie, wenn Sie so wollen. Trotzdem gelten militärische Strukturen auch im Söldnerwesen: Gallagher ist zwar Geschäftsführer, hat aber, wie wir wissen, nur bedingt Entscheidungen zu treffen. Ob als Militär oder als Manager, er muss sich abgesichert haben: So ein Einsatz wird von oben angeordnet, von ganz oben.»
«Also … nicht von Stranzer.»
«Nein. Von Omar.»
Der Bus nähert sich der Station Michel-Ange, die nur einen Häuserblock vom Jubelpark entfernt ist, und Sophie steht auf.
«Wir wollen den Wagen holen. Kommen Sie?»
«Vergessen Sie den Wagen. Der ist wie eine gigantische Visitenkarte. Auf den Friedhof kommen wir auch mit dem Bus.»
«Was sollen wir denn dann tun, verdammt?» Sophie sinkt auf den Sitz zurück. Mit einer raschen Handbewegung wischt sie sich ein feuchtes Schimmern von der Wange. «Es ist alles meine Schuld. Wir hätten gleich zur Polizei gehen sollen.»
«Und dann?», fragt Polivka. «Was kann die Polizei schon tun? Was haben wir denn in der Hand? Ein Video, das Ihren Bruder ins Gefängnis bringen kann, mehr nicht. Und wenn man ihn aus dem Verkehr zieht, morden andere an seiner Stelle weiter. Nein, es ist nicht Ihre Schuld, Madame … Sophie …» Er nimmt das Taschentuch aus ihrer Hand und beugt sich vor, um ihr die Tränen vom Gesicht zu tupfen. Der Chauffeur sieht in den Rückspiegel und steigt aufs Gaspedal.
Der Blick des Fahrers mag nur dem Verkehr der Rue Franklin gegolten haben. Sein Manöver aber wirkt eindeutig zweideutig: Er kuppelt sozusagen doppelt ein, als wolle er ihn in den Bus verlagern, den Verkehr. Polivka jedenfalls, von der Kinetik aus dem Gleichgewicht gebracht, kippt jäh nach vorn und landet auf Sophie – ein kurzer Schreck, der sich verliert, als sie ihm ihre Arme um den Hals legt und ihn an sich drückt.
Sie schmeckt nach Samt. Nach kühlem, weichem Samt.
Was ein Stahlrohr und ein Schwall von Hochgeschwindigkeitsgeschossen nicht vermochten, das bewirkt die Zungenspitze, die jetzt – zart und tastend – Polivkas Lippen berührt: Sein Puls schnellt hoch, sein Herz beginnt zu rasen. Polivka ist einer Ohnmacht nahe.
Zwanzig, neunzehn, achtzehn, zählt er im Stillen, mit geschlossenen Augen. Wie lange hat er nicht geküsst? Es muss sechs Jahre her sein. Gerda.
Siebzehn, sechzehn, fünfzehn. Seine Lippen teilen sich wie von selbst – ein Vorhang, hinter dem ein schüchterner Eleve auf die Primaballerina wartet. Damenwahl. Der neue Anzug knistert.
Vierzehn, dreizehn, zwölf. Zwei Zungen tanzen miteinander, nicht gerade kunstvoll, aber passioniert.
Der Bus fährt über eine Bodenwelle, und Polivka öffnet instinktiv die Augen. Durch das Rückfenster gewahrt er einen schwarzen Audi, der sich zügig nähert, um dann die Geschwindigkeit zu drosseln und gemächlich hinter ihnen her zu gondeln. Wie zum Abschied streicht Polivka über Sophies Wange und löst sich von ihr.
«Sie sind wieder da», sagt er ruhig.
Das Handy. Natürlich, es kann nur das Handy sein. Polivka könnte sich ohrfeigen, weil er nicht gleich daran gedacht hat. Wenn Gallagher Sophies Telefon entdeckt und die Anrufliste durchgesehen hat, ist er notgedrungen auf seine, auf Polivkas Nummer gestoßen. Und wer, wenn nicht die Firma Smart Security Solutions könnte im Handumdrehen den Standort eines Mobiltelefons ermitteln? Wahrscheinlich hat sich Gallagher inzwischen auch darüber informiert, mit wem er es hier eigentlich zu tun hat. Einen Wiener Kriminalbeamten im Besitz des heiklen Videos zu wissen, wird seine Stimmung kaum gehoben haben. Dann auch noch das Ferngespräch mit Oberst Schröck, das Gallagher womöglich abgehört hat. Hoffentlich, denkt Polivka, sind meine Lügen abwegig genug gewesen, um zumindest den verletzten Hammel vorerst aus der Schusslinie zu halten …
Sie nähern sich der Busstation am Place Général Meiser. Ein paar der anderen Passagiere machen sich zum Aussteigen bereit, und Polivka ist kurz versucht, sein Handy in die Manteltasche eines grau melierten Mannes gleiten zu lassen, der gerade den Halteknopf drückt. Dann aber wird ihm klar, was das bedeuten könnte: Gallaghers Mordbuben scheinen nicht lange zu fackeln, sie schießen zuerst und stellen, wenn
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