Polivka hat einen Traum (German Edition)
Ordnung, Herr Oberst.»
In Erwartung weiterer Weisungen lauscht Polivka ins Telefon, doch Schröck scheint bereits aufgelegt zu haben. Rauschen im Hörer, dann – für den Bruchteil einer Sekunde – ein dumpfer metallischer Klang. Im linken Auge von Jeanneken Pis klafft jetzt ein kreisrundes Loch.
Polivka schreit auf. Er wirbelt herum und quert mit wenigen Sprüngen die Gasse.
«Weg!», brüllt er. «Deckung!» Eine der Tassen zerklirrt auf dem Kaffeehaustisch, und Polivka spürt einen jähen Stich am Unterkiefer, während er sich wie ein Freistilringer auf Sophie wirft und sie zu Boden reißt. An der Lehne ihres gusseisernen Stuhls stieben Funken auf.
«Weg, verdammt! Nur weg!»
Den Arm um ihre Taille gelegt, zerrt er Sophie mit sich; halb stolpernd, halb kriechend erreichen sie die Straßenecke. Kurz und trocken klatscht es hinter ihnen an die Hauswand, ein rötliches Wölkchen staubt aus unverputzten Ziegeln.
«Laufen Sie!»
Die beiden rennen um ihr Leben, rennen die Rue de Bouchers entlang, biegen nach rechts und hasten weiter, bis ihnen beim Place da la Monnaie ein Bus entgegenkommt und – wenige Meter vor ihnen – in der Haltestelle stoppt. Die Türen klappen fauchend auf.
«Wohin fährt der?», keucht Polivka, sobald sie die rettenden Stufen erklommen haben und der Bus sich wieder in Bewegung setzt.
«Où allez-vous?», gibt Sophie die Frage an den Fahrer weiter. Der aber zeigt nur gelangweilt auf ein Schild, das schräg über ihm in der Mitte des Fahrgastraums hängt.
« Cimetière », liest Sophie. «Zum Friedhof.»
15
Ein weißer Porzellansplitter, mehr ist es nicht, was knapp über dem Kiefer in Polivkas Wange steckt. Sophie zieht ihn mit Hilfe eines Taschentuchs heraus, tupft vorsichtig die Wunde ab. Ganz nah sind ihre Bernsteinaugen jetzt, und Polivka, gerade erst dem Tod entronnen, überlegt, ob das vielleicht ein angemessener Moment für einen Kuss …
Zu spät. Sie senkt den Kopf und betrachtet den Splitter. «Das hätte auch eine Gewehrkugel sein können.»
«Stahlmantelgeschoss», nickt Polivka. «Das Projektil hat dieses Mädchen glatt durchlöchert.»
«Welches Mädchen?», fragt Sophie erschrocken.
«Na, das bronzene, Sie wissen schon, die kleine Pinklerin.»
Sophie schließt die Augen und drückt ihre Schläfe ans kühlende Busfenster. «Kaum zu glauben, dass ich einmal so empfinden würde», murmelt sie. «Hervé … Ich hasse ihn. Ich hasse meinen Bruder.»
«Nicht, dass ich ihn lieben würde, aber … Vielleicht ist er diesmal gar nicht mit dabei gewesen. Es waren nämlich mindestens zwei Heckenschützen, einer auf dem Hausdach über dem Lokal, der andere schräg vis-à-vis.»
«Das heißt …»
«Das heißt, dass unsere Geheimmission inzwischen aufgeflogen ist. Vor knapp drei Stunden waren wir bei Gallagher; er hatte also Zeit genug herauszufinden, dass es diesen Oligarchen Sergej Wolkow und diese Turnerin Ildiko Horvat nie gegeben hat. Er ist beunruhigt, tritt ans Fenster, um zu überlegen – und entdeckt Ihr Wertkartenhandy in der Fensternische. Jetzt schrillen endgültig seine Alarmglocken. Wer sind die beiden seltsamen Gestalten, die ihn unter falschen Namen aushorchen und abhören, mit wem hat er es zu tun? Vielleicht mit zwei durchtriebenen Journalisten, die in Sachen INDECT recherchieren? Gut möglich, aber warum haben wir das Gespräch – im Rückblick ziemlich vordergründig – auf Hervé gebracht? Er rekapituliert sein Telefonat mit Stranzer: Welche Worte, welche Namen sind gefallen, was hat er preisgegeben? Kurzerhand greift Gallagher zum Telefon – nein, nicht, um Stranzer anzurufen, sondern um Hervé zu kontaktieren.»
Der Bus biegt in die breite Rue Royale ein und beschleunigt. Erst als der Chauffeur den Fuß vom Gas nimmt und das Dröhnen des Motors nachlässt, spricht Polivka weiter.
«Hervé muss ihm alles erzählt haben. Von Ihnen und von Jacques’ brisantem Film, von Hammel und von mir, den beiden unbekannten Männern. Den einen, sagt er, hat er bereits aus dem Weg geräumt, aber der andere ist mit seiner Schwester und dem Video in einem grünen Citroën entkommen. Also fragt ihn Gallagher sofort …»
«Nach unserem Aussehen», unterbricht Sophie mit leiser Stimme.
«Volltreffer. Der Kerl ist nicht dumm, er kann eins und eins zusammenzählen. Und er weiß, dass er jetzt etwas unternehmen muss.»
«Er setzt zwei Killer auf uns an.»
«Nicht eigenmächtig. Smart Security Solutions sind ja nicht nur ein börsennotierter Konzern, sondern
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