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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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orten!»
    Polivka erstarrt. Seine latente Ahnung, etwas Wesentliches übersehen zu haben, wandelt sich schlagartig zur Gewissheit. Ja, Sophie hat eindeutig den Nagel auf den Kopf getroffen.
    Auf den Kopf wird Polivka auch noch von etwas anderem getroffen, kaum dass er das Telefon herauszieht, um es fortzuschleudern. Das Letzte, was er sieht, ist das verräterische Handy, das in hohem Bogen durch die Nachtluft segelt, und das Letzte, was er hört, ein heiseres, fernes Motorengeräusch, das sich vom Norden her der Fürstengasse nähert. Das Letzte, was er denkt, ist – Sophie …
    Dann schwinden ihm die Sinne.

    Wie wir stampfen, wie wir stampfen, unten in der Kratersohle.
    Wie wir stampfen, eine Heerschar nackter Sklaven, in den Nebeln grauer Vorzeit an die Ufer des Vulkans gespült.
    Wo unsre Wiege stand, ist längst vergessen, unsre Wurzeln haben wir zu Nichts zerstampft. Wir wurden nicht, wir haben nicht, wir wissen nicht, wir denken nicht, wir herrschen nicht.
    Wir stampfen.
    Gleichschritt, Gleichschritt, Tag für Tag für Nacht für Nacht. Wir stampfen und wir schmieden, schmieden Ketten, schmieden unsre eignen tonnenschweren Eisenketten. Lava schlägt uns gegen Bauch und Beine, perlt ab, verschorft die Haut.
    Wir klagen nicht. Wir wünschen nicht.
    Wir stampfen.
    Von den schwarzen Wänden hallen Befehle wider, hohl und dumpf im Rhythmus unsrer unsterblichen Herzen. Kein Erinnern, kein Verlöschen, kein Entkommen.
    Schweigend kreisen wachsame Flamingos in der Krateröffnung.
    Wir stampfen.
    Wie wir stampfen …
    «Wie wir stampfen … stampfen …», so ächzt es in Polivka. Sein Mund ist ausgetrocknet, seine Zunge klebt am Gaumen, teigig und gequollen. Durch den malträtierten Hinterkopf marschieren nach wie vor die nackten Sklaven, unaufhörlich branden Lavawellen gegen seine Schädelwände.
    Dieser Schmerz.
    In seinem Nacken steckt ein Marterpfahl, in seinen Sehnerven pulsieren die grellen Blitze einer inwendigen Heavy-Metal-Lichtorgel. Er weiß: Wenn er die Augen öffnet, wird sein zerebraler Krater überkochen – eine Explosion, dagegen war der Ausbruch des Vesuv ein Kinderspiel.
    Der Ausbruch des Vesuv. Ein Kinderspiel …
    Mit einem Schlag erinnert er sich wieder.
    Durch den Liechtensteinpark müssen sie gekommen sein, die Häscher, geradewegs vom Flughafen, wo sie bei ihrer Ankunft von der frohen Nachricht erwartet worden waren: Die zwei Gesuchten waren wiederaufgetaucht, man hatte ihre neue Handynummer eruiert, sodass nun einer aussichtsreichen Jagd nichts mehr im Wege stand. Wahrscheinlich war die Telefonpeilung in Brüssel vorgenommen worden, und so konnten sich die Männer – von John Gallagher über die aktuellen Standortdaten informiert – umgehend auf die Pirsch begeben.
    Warum haben sie Polivka nicht gleich erschossen? Ihre Waffen werden sie ja wohl aus Brüssel mitgenommen haben – wenn schon nicht im Handgepäck, so doch im Frachtraum der Maschine. Allerdings – das dürfte auch der Grund für die Zurückhaltung der Männer sein – darf man nur registrierte Feuerwaffen mit dem Flugzeug transportieren, sie sind also für eine Hinrichtung im Herzen Wiens entsprechend ungeeignet.
    Der im Polizeijargon so oft erwähnte stumpfe Gegenstand hat seinen Zweck ja schließlich auch erfüllt. Dass so viel Schmerz in einen Schädel passt …
    Und so viel Angst.
    Sophie, denkt Polivka. Sophie …
    Er atmet zweimal kräftig durch und zwängt die Augenlider auf. Der Stich fährt ihm in die Pupillen, zuckt ihm durch das Rückenmark bis in den Unterleib. Dabei umgibt ihn ohnehin nur ein diffuses Dämmerlicht: der bläulich-blasse Schimmer eines Armaturenbretts.
    Polivka liegt seitlich auf der Ladefläche eines Kastenwagens, die gerippte Bodenplatte gegen Hüften und Gesicht gepresst. Als er versucht, sich aufzurichten, merkt er, dass er seine Arme nicht bewegen kann. Die Handgelenke sind am Rücken festgebunden, auch die Beine sind gefesselt, offenbar mit Klebeband, wie ihm ein leises Knistern nun verrät.
    Sophie …
    Sie liegt auf der anderen Seite des Laderaums und rührt sich nicht. Zwischen ihren geschlossenen Augen sickert schmal ein dunkles Rinnsal über Stirn und Nase, tröpfelt sämig aufs Metall.
    «Sophie …» Seine Stimme ist tonlos, ein klägliches Stöhnen. Er winkelt die Beine an, probiert, sich ein Stück näher zu ihr hin zu schieben. Es gelingt ihm nicht. Er liegt nun wieder regungslos und lauscht ins Zwielicht, in der Hoffnung, ihren Atem zu vernehmen, doch das Stampfen seines Herzens

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